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Zu Zdenka Beckers Roman „Taubenflug“

Lesezeit: ungefähr 6 Minuten.

Die Flammen der Kerzen zitterten im Rhythmus ihres Atems.“ (S. 89)

 

nämlich ihres angstvollen Atems, als die entsetzten Dorfbewohner von D. am 21. August 1968 wegen des Einmarsches der Russen in der ČSSR in ihre Kirche flüchteten. Diese zitternden Kerzen – und viele gleichwertige Hinweise – geben der Prosa Zdenka Beckers in jedem Erzählabschnitt den Ton völliger Wahrhaftigkeit.

Impressionistischer Ultra-Naturalismus, tschecho-slowakische (und damit auch österreichische und europäische) Zeitgeschichte so nah und echt, wie sonst nie, mit keinem Medium (auch nicht mit dem Fernsehen!) vermittelt, Weltbild und Denkweisen armer Frauen, ein dichter, bitter-banaler Realitätsstrom umspült die geheime, stets brennend prüfende Seeleninsel einer tiefen Jugendliebe, einer veruntreuten Liebe. Veruntreut wurden nämlich viele Jahre lang die Briefe des Jünglings und Mannes an das Mädchen und die Frau Silvia von deren Mutter, in deren Kopf ein Gartenstück durch eine von ihr anders geplante Ehe Silvias zu erhalten gewesen wäre. „Wenn ich aber Gregor – von Daniel wollte meine Mutter nichts wissen – heiraten würde, konnte man zwischen den Grundstücken eine Zufahrt zu der hinteren Parzelle errichten. Ansonsten bliebe das Grundstück von der Straße abgeschnitten. – Auch wenn ich gern ein Haus und einen Garten haben wollte, konnte ich mir eine Ehe mit Gregor nicht vorstellen.“ S. 47. Hals abschnürend abwegig: Ein durch solche Tragik und Umbruchsturbulenzen um ihren geliebten Daniel gebrachtes, in Entbehrung veredeltes Mädchen gewinnt – nach Wien geflüchtet – menschliche und wissenschaftliche Größe inmitten unerquicklicher Unterschichtkabalen, Familienstreitigkeiten, engstem Eigensinn, Überblickslosigkeit ungebildeten Romanpersonals. „Verwelkte Blumen, stinkender Kühlschrankinhalt, Unterhosen“, pausenlos hintersinnig verfolgtes Stillen zehrenden Lebenshungers bis hin zur Erbschleicherei.

Zdenka Beckers Erzählkunst hat im „Taubenflug“ neuerlich ein ebenso aktuelles wie für immer gültiges literarisches Großgemälde hervorgebracht – ähnlich ihrem Roman „Die Töchter der Róza Bukovská“. Auch im neuen Werk sind die äußeren Verhältnisse und inneren Verfassungen der Menschen dreier Generationen in der Slowakei des 20. Jahrhunderts kunstvoll durchgezeichnet, durch Silvias Flucht und Leben im Westen aber auch die Umstände in Traiskirchen, Wien, Nordamerika. Im „Taubenflug“ allerdings ist alles Erzählen unterlegt und getragen von einer viele Jahre und Lebensphasen hindurch unerfüllten Liebe wegen des (für Silvia, nicht für deren Mutter!) spurlosen Verschwindens des einzigen und einmaligen Vertrauten, nämlich Daniels. Diese Spannung führte Silvia, die gründliche Erzählerin, aus dem Dorf D. bei Bratislava ins österreichische Flüchtlingslager, von dort ins Studentenheim, dann für Studium und Zoologiepublikationen in die weite Welt, stets freilich geerdet durch regelmäßige Besuche der alten Mutter im slowakischen Dorf D.. – Die tragende Metapher dieses Romans ist die ewige Treue der Taubenpaare, deren Trennung die größten Anstrengungen dieser Tiere bewirkt, sie zu überwinden.

 

Äußere Umstände verhinderten monatelang mein zügiges Lesen dieses Buchs, verursachten aber ständig erinnertes Befassen mit den geschilderten Verhältnissen, ohne sie rasch weiter verfolgen zu können. Es blieben aber die vielen authentischen Wahrnehmungen – Wahrheitsbelege! – der Dichterin im erwartungsvollen Leserbewußtsein:

 

 

Beispiele: „Ich wusste sofort, dass sie im Stehen gestorben war.“ (S.9) „Der einzige bunte Fleck war ein Billa-Supermarkt… Die Treppe, auf der meine Mutter gestorben war, war vom Frost bröckelig. Einige Auftrittsflächen waren so beschädigt, dass es kaum möglich war, daraufzusteigen.“ (S. 12) „Auf dem Herd in der Küche standen drei kleine Töpfe mit Kartoffeln, Kohlgemüse und einem kleinen Stück Fleisch.“ (S. 13) „’Das Grundwasser ist zu hoch’, sagte der Arbeiter, ‚die Urne’, er zeigte auf die gelbe Urne meines Vaters im Gras, ‚stand im Wasser’“. (S.16) „Die beiden Glasscheiben, zum Schutz vor Staub zusammengeschoben, waren neben den eingefrästen Griffstellen voller Fingerabdrücke.“ (S. 23) „Meine Knie begannen zu zittern. Die Schrift, der Stil, alles so lange her, fast vergessen und jetzt so nah vor mir. Daniel hatte mir geschrieben und meine Mutter hatte es mir verschwiegen.“ (S. 28) „Der Henker war ein Mann aus D.. Als er um vier Uhr in der Früh in die Zelle kam, um ihn abzuholen, erkannte ihn mein Papa. ‚Was machst du hier?’, fragte ihn der Henker. ‚Und was machst du hier?’, fragte mein Papa. ’Ich soll einen Verurteilten abholen.’ – ‚Und ich bin der, den du abholen sollst’ – ‚Das muss ein Irrtum sein’, sagte der Henker und ging nachfragen. Und eine halbe Stunde später war mein Papa tot.“ (S. 46) „Der Frühling des Jahres 1968 war ein besonderer Frühling. War bis dahin das Straßenbild von Grautönen dominiert gewesen, so drangen jetzt bunte Farben in den Alltag. Die durchwegs langhaarige Jugend, von der Hippiebewegung angeregt, trug Geblümtes, Gestreiftes, Kariertes. Man traute sich wieder auf der Straße zu lachen, Musik zu hören, laut zu reden.“ (S. 75) (In Traiskirchen:) „Ich sagte, dass ich dableiben und Daniel suchen würde. Und dann, wenn ich ihn gefunden hätte, mit ihm entscheiden würde, wo wir bleiben und wohin wir gehen würden. Gemeinsam. Ich wollte ohne Daniel nicht mehr sein.“ (S. 104) „Der Gedanke an Daniel brannte in meiner Seele wie eine nie heilende Wunde und verfolgte mich unaufhörlich, kreiste rund um mich in verschiedensten Formen.“ (S.116) „Ihre Oma sitzt im Hauseingang und raucht Zigarren. Die Mutter hält auf dem Balkon Gänse und Hühner. Aber am schlimmsten war eine Familie, die im Badezimmer ein altes Zirkuspferd hatte. Das Pferd trat mit den Hinterbeinen gegen die Wände, sodass der ganze Bau zitterte.“ (S. 123) (In Foxtown:) „Das schmuddelige Geschäft, in dem Kriegsveteranen und selbst ernannte Intellektuelle Eierspeisen und Omeletts verzehrten, passte in das Bild der verschlafenen Stadt… die Keramikschalen, die bei den Kaffeespendern standen, waren zwar frisch gespült, aber nicht frei von Kaffeeresten.“ (S. 153) (Tragischer Fehlschluss:) „Daniel musste wissen, dass er mich über meine Mutter immer finden konnte, er tat es aber nicht.“ (S. 159) „Der Hundespeichel tropfte auf Veronikas Seidenbluse.“ (S. 188) (Die erfolgreiche Erbschleicherin vor der Notarin:) „Ihr Gesicht war rot und geschwollen, über die geschminkten Wangen rannten Tränen, der unappetitliche, klebrige Schaum auf den Lippen zog bei jedem Wort Fäden. Veronikas aufgerissene Augen drohten aus den Augenhöhlen zu springen, der verkrampfte Mund wurde immer eckiger… Ich verriegelte die Tür und setzte mich auf den Toilettendeckel.“ (S. 197, 198) „Ich sah zu der Orgel über dem Eingang, betrachtete die geometrisch angeordneten Pfeifen und sah auf einmal eine Taube auf dem Chorgeländer sitzen… Die Holzstufen knarrten unter mir, daran hatte sich seit meiner Kindheit nichts geändert… Und plötzlich knarrte die Tür und ein Sonnenstrahl fiel in die friedvolle Stille und Dunkelheit. Mit lauten Schritten auf dem Steinboden betrat ein Mann mit Hut den Kircheninnenraum… Seine khakigrüne Freizeitkleidung entsprach nicht dem üblichen Bild eines Kirchengehers…“ (S. 202, 203)

 

Zdenka Beckers Textstrom ist breit und langsam, hunderte Verweise wirken als Stauchungen, Ablenkungen, Verzögerungen – doch genau diese Eingrabungen bewirken sättigende Fülle, reichliche Menschenweltwirklichkeit, das volle Echtlebensgewirk. Meine begeisterte Rezension der „Töchter“ aus 2007 endete mit dem Satz: „So kann es nur eine Frau. Besser kann es nicht sein.“ 2010 ergeht es mir ebenso: Was ist die Ursache solcher Kompetenz? Der Schau- und Schreibfleiß einer Frau und die tausendfältigen, ihr unabschiebbaren, unmittelbaren Wachsamkeiten und Daseinsbewältigungshandgriffe verhindern maskuline Verstiegenheiten, sichern betretbare, verlässliche Geistesräume: Der Roman als gut eingerichtete Denk- und Erkenntniswerkstatt. Danke für solche Bewußtseinsgeschenke! Sie gewährleisten unsere Lebensfähigkeit.

Ganz berechtigt wird in den zahlreichen neuen Buchbesprechungen Zdenka Becker als Inhaberin eines „respektablen Platzes in der österreichischen Literatur“ bezeichnet.

Ja, welch ein Glück für dieses Land!

 

Matthias Mander

 

Zdenka Becker „Taubenflug“, Roman, 208 Seiten, ISBN 978-3-85452-645-2

Euro 19,90