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Zdenka Becker: Der größte Fall meines Vaters

Lesezeit: ungefähr 5 Minuten.

Roman Deuticke 2013

ISBN 978-3-552-06207-8

221 Seiten     Auch als E-Book

 

Vor 33 Jahren verwendete der Tiroler Literat Helmut Schinagl für eine präsent-Rezension die Überschrift „Nach Mander kann man süchtig werden.“ Diese Wendung stieg aus meinem Langzeitgedächtnis auf, als ich den neuen Roman Zdenka Beckers las. Ja: Nach Becker kann man süchtig werden! Der Lesegenuss ist vollkommen. Ein breiter und tiefer Wirklichkeitsstrom treibt und ermächtigt die Seelenmühle zu neuer Wahrnehmungsleistung, wohltuender Sättigung. Wie schon bei den „Töchtern“, 2006, und den „Tauben“, 2008, erschließt Zdenka Becker die ostmitteleuropäische Lebensweise am Beispiel der Slowakei zwischen dem Kriegsende und der Wende. Dies in langer und bester slawischer Romantradition, höchst reizvoll mit beeinflusst durch mehrsprachiges Denken und deutsches Schreiben. Der neue „Fall“ zeigt in kunstvoller Verschränkung sowie fraulich sorgfältiger, zugleich pragmatischer Haltung das kleinbürgerliche Soziotop einer sowohl materiellen wie ideelen Mangelgesellschaft, ausgefaltet in aller einzelpersönlicher Dramatik von mühsamer Subsistenzbewahrung bis zu krass kriminellen Exzessen. Wie schafft Zdenka Becker das diesmal? Mit dem Blick eines sensiblen, hellwachen Mädchens, dessen Vater Kriminalpolizist ist, der die unsäglichen Morde einer betörenden Nymphomanin aufklärt, nicht ohne persönlich von dieser Person und dem Geschehen erfasst, eigentlich betroffen zu sein. Aus dem aufmerksamen Schulmädchen wird eine souveräne erwachsene Tochter, die ihren nunmehr 90-jährigen verwitweten und gelähmten Vater, pensionierter Polizeipräsident, nicht nur hingebungsvoll wäscht (!) und pflegt, sondern ihm durchaus widerstrebend ein umfassendes protokollarisches, zugleich feinstes literarisches Denkmal setzt, das sogar die prekäre elterliche Ehe zeigt …

Über die „Töchter der Róza Bukovská“ aus 2006 schrieb ich: `Eintreten in die voll gesehene und erfasste weil erspürte Wahrheit – das vermag nur die Dichtung, keine andere Disziplin. Und so… kann es nur eine Frau. Besser kann es nicht sein.` Und zum Roman „Taubenflug“ aus 2008 schrieb ich: `Der Roman als gut eingerichtete Denk- und Erkenntniswerkstatt, reichliche Menschenweltwirklichkeit, das volle Echtlebensgewirk.`

Hier aktuelle Zitate, kein Satz ohne inappellable Realien: „Unter der Last seiner fast neunzig Jahre gebückt, hält er sich an den Griffen in der Dusche fest … Samstag ist Badetag… die Samstage gehören nur uns beiden… Mein Vater war jemand. Er war Polizeipräsident …“ S. 7 – 9) „Romanfiguren sollen Ecken und Kanten haben, gute und schlechte Eigenschaften. Es muss ihnen erlaubt sein, Fehler, die sie menschlich erscheinen lassen, zu machen, aber auch schwach, ängstlich oder weinerlich zu sein. Aber würde es mein Vater verstehen, wenn ich ihn so beschreibe, wie ich ihn sehe?“ (S. 22) „Die Polizei war zwar dumm, aber nicht so dumm, wie diese Frauen dachten. Sie wurden noch in der Nacht zum Polizeiarzt gebracht, und wenn die Untersuchung zeigte, dass sich das `Opfer` trotz der Vergewaltigung vor zwei Stunden in der achten Schwangerschaftswoche befand, musste es wegen Irreführung der Sicherheitsorgane und Vorspiegelung falscher Tatsachen mit einer saftigen Strafe rechnen und das Kind austragen.“ (S. 33) „Ich war nicht kriminell, sondern geschickt. Du weißt, dass es damals hieß, wer nicht stiehlt, bestiehlt seine Familie.“ (S. 38) „ … Partie um ihren Mund dominierten zwei senkrechte Linien, die von den beiden Mundwinkeln am Kinn vorbei nach unten zeigten und ihr den Ausdruck einer Holzmarionette mit beweglicher Kinnlade verliehen.“ (S. 62) „Wegen seiner ständigen Magen- und Darmprobleme lebte er ziemlich gesund. Er aß nichts Fettes und nie zu viel und mied Zigaretten und Alkohol. Sein Arzt prophezeite ihm, dem ewigen Hypochonder, ein langes Leben.“ (S. 93) „Das kratzende Geräusch der Beine seines Stuhls auf dem Linoleumboden beendete die Besprechung.“ (S. 130) „Es war kalt und beinahe windstill. Die tiefen Wolken, die vom Himmel herunter hingen, sahen nach Schnee aus. Eine Schar Krähen schwang sich auf Luftwellen hin und her. Plötzlich kam ein Mann mit einem Fotoapparat um die Ecke … `Hat Sie schon gestanden?` `Kein Kommentar` sagte Teo Mudroch und bahnte sich den Weg zu seinem Wagen. Er setzte sich hinein, startete und schaltete das Kofferradio auf dem Beifahrersitz ein. Eine liebliche Frauenstimme berichtete von einem umgekippten LKW und einem Massenunfall auf einer Schnellstraße und wünschte weiterhin eine gute Fahrt. Mein Vater gab Gas.“ (S. 122) „Das Speiseeis tröpfelt von seinem Kinn und zeichnet auf den Oberteil der Hose der Uniform gelbliche Gebilde, die Afrika und Südamerika ähnlich sind. Ich ziehe ein Taschentuch heraus und wische ihm die Landkarte von seiner Uniform. Sein Gesicht und die Hände reinige ich mit einem feuchten Babytuch, das ich immer in meiner Handtasche bereit halte.“ (S. 126) Zuerst hebe ich ihn vom Rollstuhl in die Höhe, beuge ihn vor, drehe ihn mit dem Hinterteil zur offenen Wagentür, drücke seinen Hintern in  die Tiefe, gleichzeitig schütze ich den Kopf. Durch langsame Drehung nach links und das Heben der beiden Beine erreiche ich, dass sein Rumpf auf der Rückenlehne landet und die Füße in der Fahrtrichtung auf der Bodenplatte stehen.“ (S. 127) „Die Menschen auf dem Friedhof, auch die Lebenden, sind friedlicher und toleranter als jene außerhalb seiner Mauern.“ (S. 128) Frauen töten, um sich nicht mehr beherrschen zu lassen. Frauen planen einen  Mord besser als Männer. Sie wählen dabei eine Technik, bei der die Tat nicht als solche erkannt wird… Etwa jede zweite von Frauen begangene Tat bleibt unentdeckt.“ (S. 135) „Der Regen hatte aufgehört. Auf der Straße roch es nach feuchter Erde und dampfendem Asphalt.“ (S. 142) „In der Luft hängt die allgegenwärtige Endlichkeit, die alle in sich spüren. Jeder freut sich über einen neuen Tag, über einen Aufschub. Noch den Winter überleben, dann den Frühling und noch den Sommer. (S. 212)

Max Aub, der große französisch-spanische Dichter, * 1903, + 1972, Chronist des Spanischen Bürgerkriegs 1936 bis 1939, schrieb: „Alles wird davon abhängen, wie die Geschichte geschrieben wird. Die einzigen vertrauenswürdigen Quellen sind: Romane.“ Dieses starke Wort des epochalen Erzählers ist wahr, denn nur diese Kunstgattung erlaubt und verlangt jene umfassende Darstellung, die das Geschehen in allen seinen Ausprägungen und Abläufen dem persönlichen Erleben und Erkennen gleichartig vermittelt, nein, eigentlich immer neu schafft, lebendig erhält. Zdenka Beckers Romane sind derart glaubwürdige Quellen, dass den Lesern das Wissen einer Region und einer Epoche ebenso leidenschaftlich genau wie menschlich überzeugend geschenkt wird.

 

Matthias Mander