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„Vorwort zum Dramenband IV von Gerald Szyskowitz

Lesezeit: cirka 7 Minuten.

Jean-Jacques Rousseau, der tiefe folgenreiche Denker des 18. Jahrhunderts, schrieb: „Ich würde mir nicht anmaßen, Menschen belehren zu wollen, wenn ich nicht beobachtete, wie andere sie irreführen.“ Und der deutsche Philosoph Robert Spaemann bekannte unlängst: „Wenn alles in Ordnung wäre und wenn ich dem meisten, was ich lese, zustimmen könnte, dann wäre ich zufrieden. Ich würde gern schöne Dinge tun und nicht die Last des Schreibens auf mich nehmen.“

Der hier vorliegende IV. Band mit weiteren sieben Dramen des Gerald Szyszkowitz – in den Bänden I bis III sind 20 Stücke vorgestellt – führt über obige Zitate zur Würdigung dieses Dramatikers als Beantworter unserer Gegenwartsfragen, ungeachtet der jeweiligen Stoffe. Denn wer so zahlreich und kenntnisreich mit seinen Theaterstücken hervortritt, stellt seine Kunst in den Dienst von Richtigstellungen. Richtig in allen Hinsichten: historisch, charakterologisch, dramaturgisch und auch ethisch: Das heißt gutes Leben aller befördernd.

In diesem Band finden sich folgende Sätze:

S. 124: „In Paris geht die Welt unter und er dichtet?“ Görtz, Diplomat, Neider (Der junge Goethe und die Herzogin Anna Amalia)

S. 167: Reinhardt: „Sie verstehen nie und nimmer, warum die alten Griechen ebensoviel Geld für die Theater ausgegeben haben wie für die Freiheitskriege gegen die Perser.“ (Werner Krauß oder des Teufels Rabbi Loew)

S. 247: Rudolf Weys: „Ich hab das nicht geschrieben, damit irgendwer jubelt… Ich schreib meine Nummern, damit alle klarer sehen, was da bei uns rundherum passiert. Jetzt.“ (Das Wiener Werkel oder die Ehre der Kollaborateure)

Diesen drei Aussagen ist das Befassen mit Erkenntnis, Richtigstellung, Entscheidung gemeinsam: Denn erst literarisches Durchdringen des blind ablaufenden Geschehens voll Reflexen, Gefühlsausbrüchen, heftigen Taten, krasser Empirie gewährt jene Zugänge zu umfassender Lebenswahrnehmung, die Urteilskraft vermittelt für langfristig rechtes Verhalten und schadenminderndes Beistehen ringsum. Literatur reduziert den Menschen nicht auf das, was „objektivierende Wissenschaft“ sagen kann. Womit sie ihn auslöscht! Weil: Denkprozesse den Hirnregionen zuweisen erklärt nichts über Gedanken, Intention, Inspiration. Literatur steht für „metaphysischen Realismus“ (Hilary Putnam), das bedeutet, dass ich eine Wirklichkeit annehme, die nicht (nur) Wirklichkeit für mich ist! Wenn ich voraussetze, dass der Andere jenseits alles dessen, was ich von ihm weiß, er selbst ist und genau so real, wie ich selbst real bin, und sein Blick auf mich genau  so viel bedeutet wie mein Blick auf ihn, erst dann reden wir von echtem Erkennen, vom Stoff der Literatur, von der Kunst des Dramas. Hier geht es um das Gewinnen der wahren Perspektive, nämlich der immerhin intendierten universalen Perspektive durch das Darstellen und Erfassen der Perspektiven der vielen einzelnen Menschen.

Deshalb „dichtet Goethe“ inmitten der Revolutionspanik, weil sein Gezogensein der tiefen und weiten Perspektive gilt, die nicht nur eine Epoche, sondern die ganze Menschengeschichte überspannt. Deshalb strömen die Griechen in ihre „Theater“, weil die dort eröffneten Dimensionen weit über jeden befristeten kriegerischen Landgewinn  hinausgehen. Und deshalb riskieren die Autoren und Darsteller des „Wiener Werkels“ in der Nazizeit allabendlich ihr Leben, weil nur Wort und Geste auf der Bühne das Licht der menschlich völlig unverzichtbaren Wahrheit über der institutionellen Lügen- und Massenmordmaschine aufblitzen lassen konnten.

Und deshalb legt Gerald Szyszkowitz hiermit seinen vierten Dramenband vor mit sieben neuen Stücken, deren Stoffe aus vier Jahrhunderten stammen (die Hauptgestalten haben zusammen über 500 Lebensjahre bewältigt), die jedoch alle uns betreffen, d.h. ihn und damit eben auch uns betreffen, weil es keine Gegenwart gibt, die der wirklich übergreifenden, überragenden, transsubstantiierenden Perspektive entraten kann.

(Es gehört nämlich zu jeder Vergangenheit eine Gegenwart, denn ohne diese gäbe es jene nicht; das ist der Sinn des Präsens, nämlich Bewusstsein, Leben!)

Neuerlich erlebt der Leser dieser Theaterstücke die stupende Meisterschaft in der großzügigen Herangehensweise Gerald Szyszkowitz` an seinen jeweils gewählten, recherchierten, strukturierten Stoff: Ein Orgelvirtuose greift in die Tasten, zieht die passenden Register, setzt die Fußtastatur, die Crescendo- und Diminuendo-Schieber ein, lässt Motive und Szenen erstehen, erklingen, ineinander gleiten, die das zu Erfassende auf den Punkt bringen, verbal, nonverbal, akustisch, gestisch, stets jedoch erhellend, offenbarend. Immenses Weltwissen und Kunstwissen drängt in diesen Stücken zu jenem Dialog mit den Schauspielern und Zuschauern, den der Autor während seines Dichtens schon antizipierend für seine Durchbrüche zu auch ihm selbst anders nicht erreichbarem Erkennen führt. Das mag wohl ein Antrieb für den Fleiß des Gerald Szyszkowitz sein, dessen Theaterstücke uns mit hinreißender Leichtigkeit und Brillanz beglücken.

Gerald Szyszkowitz wurde 1938 in Graz geboren; 1960 Dr. phil der Universität Wien; er war Assistent von Willi Forst und Peter Palitzsch, Regisseur in Bonn, Dortmund, Wilhelmshaven, Stuttgart, Hannover; Chefdramaturg und Regisseur in Graz, wo er die Ödön-von-Horvath-Uraufführung „Zur schönen Aussicht“ inszenierte; er war von 1972 bis 1994, also über 20 Jahre, Fernsehspielchef des ORF mit den legendären Produktionen von der  „Alpensaga“ bis zum „Radetzkymarsch“. Die Geschichten vom „Mundl“ und vom „Kottan“, aber vor allem die Geschichten der „Blassblauen Frauenschrift“ von Werfel und Corti, die „Emigrantentrilogie“ von Troller und Corti, die „Slowenen-Trilogie“ von Pluch und Lehner, „Drei Wege zum See“ von Bachmann und Haneke, die „Alpensaga“ von Turrini, Pevny und Berner produzierte er…

Von 2001 bis 2009 war Gerald Szyszkowitz dann Direktor der Freien Bühne Wieden.

Dort hat er über vierzig Uraufführungen herausgebracht, davon 16 eigene Stücke. Zu Silvester 2009/2010, hat er die Direktion der Schauspielerin Mag. Michaela Ehrenstein übergeben.

Insgesamt hatte er bis dahin 17 Romane und 33 Dramen veröffentlicht.

Er gewährte mir damals ein kleines Interview: Ich: „Welche Galaxien kreisen in deinem inneren Kosmos?“ Er: „Klassische Prägung im Grazer Akademischen Gymnasium, viele Jahre Griechisch und Latein … Die Ideale der Klassik … Der moralische und ästhetische Impetus von Rom und Athen … Aber auch die Tanzkunst meiner Mutter … Und die Literatur des Vaters. Er hat Romane veröffentlicht, war zeitweise Journalist … Die Malerei des Urgroßvaters, des Nazareners Josef Gold in Salzburg, die Bilder des Onkels Rudolf Szyszkowitz, eines bekannten Neuländers …“ Ich: „Deine Produktion als Romancier, Dramatiker, Produzent, Regisseur und Maler ist immens. Woher kommt die Energie?“ Er: „Ich beobachte alle Personen um mich herum – und die in der Literatur -, und das, was ich beobachte, will ich dann darstellen … Im Roman, in den Stücken und in den Bildern … Mich interessiert: Warum reagiert diese Figur so? Aber jene anders? Und dabei versuche ich die klassischen, dramaturgischen Wirkungsgesetze des Romans –  Leo Tolstoi, Theodor Fontane, Joseph Roth –, und die des Theaters – Shakespeare, Tschechow, Horvath – auch  h e u t e  zu beachten… Ich habe immer mit einer außerordentlichen Lust gearbeitet,  mit einer außerordentlichen Lust am Erkennen … Und am Formulieren … Jeden Tag und jede Stunde.“

In seiner hier folgenden eigenen Einführung in die Stücke finden sich zwei gleich lautende Schlüsselsätze: S. 8: „Ich bin in diesem Stück, denk ich, der Figur Tolstoi recht nahe gekommen.“ S. 11: „Da ich nun in meinem Theaterstück dem Dichter Goethe so nahe wie möglich kommen wollte…“ Dieses „Nahekommen“ ist Belegstelle für den impliziten Wahrheitsanspruch, Weisheitsgenuss. Den Weg dahin will und kann der Dramatiker nur mit uns gemeinsam beschreiten… Und wir werden hier diesen Satz finden, S. 256: „Wir streiten über Klassen, über Rassen, wie man die Welt von Tag zu Tag regiert. Das Zeitunglesen können wir nicht lassen. Man liest und merkt kaum, dass man nichts kapiert.“ (Das Wiener Werkel oder Die Ehre der Kollaborateure) Diesem Gebrechen abzuhelfen, brauchen wir Literatur, die uns zu Wissenden macht: In der berühmten Rede Max Reinhardts an der Columbia Universität 1928 „Über den Schauspieler“ heißt es: „Mit dem Licht des Dichters steigt er in die noch unerforschten Abgründe der menschlichen Seele… Er ist Bildner und Bildwerk zugleich. Er ist Mensch an der äußersten Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum, und er steht mit beiden Füßen in beiden Reichen…  (Seine) Kraft ist so groß, dass er nicht nur seelische, sondern auch körperliche Veränderungen hervorzubringen vermag… Es ist derselbe Prozess, den Shakespeare beschreibt, wenn er sagt, dass der Schauspieler hinsichtlich Miene, Gestalt, Haltung, das ganze Wesen verändern und um ein fernes Schicksal weinen – und weinen machen – kann.“

Dann nämlich, und nur dann, haben wir etwas begriffen, wenn wir ergriffen  sind. Und dann jahrelang nicht mehr ablassen, die schwächere Sache menschlicher Wahrheit in allen ihren  verborgenen Ausfaltungen sichtbar und so zur stärkeren zu machen…