Peter Weinberger: Wohlgeordnete Einsamkeit
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Österreichisches Literaturforum
ISBN 978-3-902760-04-3
149 Seiten EURO 20.-
Peter Weinberger ist der 1943 in Wien geborene Sohn einer jüdischen Mutter, deren arischer Ehemann sich nicht – der damaligen (Un-) Rechtslage gemäß – von ihr trennte, ihr damit das Leben rettete und dadurch sogar auch die Feindschaft seiner Verwandten erleiden musste. Schul- und Hochschulbildung sowie Professur an der Technischen Universität durchlief Peter Weinberger in Wien. Seit 2008 wirkt er an der New York University. Sein hier zu besprechendes Buch ist seit 1997 das sechste im Österreichischen Literaturforum, alle Bücher sind in der Buchhandlung Singer im Jüdischen Museum Wien erhältlich. Ihre Themen sind die hiesige, vom Rassenwahn und von grassierenden Massenverbrechen gezeichnete Zeitgeschichte – belegt mit Familien- und Einzelschicksalen, teils in eindrucksvollen literarischen Miniaturen voll feinster Wahrnehmungen und Formulierungen.
Das Titelwort „wohlgeordnete Einsamkeit“ erscheint auf Seite 8 des neuesten Buchs, als der Siebenjährige durch die Fabrikstore in der Donaufelder Straße – wo er mit seinen nach dem Nazigrauen zurückgezogen lebenden Eltern wohnt – auf die vorbeimarschierenden Arbeiter hinausschaut, die 1950 ihre Kollegen in Kagran und Floridsdorf zum Oktoberstreik aufrufen. Peters Vater, Chemieingenieur, leitet dort eine Lackfabrik. Damit ist auch die ganze Örtlichkeit der Vorkommnisse umrissen: Floridsdorf, Stuwerviertel, Stadlau (Alte Donau), Gerasdorfer Straße. Die „wohlgeordnete Einsamkeit“ aber verweist auf den bekannten und verständlichen Umstand, dass überlebende Todbedrohte ihren Kindern das Durchlittene verschweigen, um ihnen den lebensnotwendigen Glauben an die Vertrauenswürdigkeit der Mitmenschen und Bewohnbarkeit der Welt und zu erhalten …
Doch 1997 erhält der inzwischen 54-Jährige vom überlebenden Sohn eines ermordeten Großonkels einen Packen Briefe seiner inzwischen verstorbenen Mutter Rosa (Lolla), und 2007 findet er im Nachlass seines Vaters weitere Schriftstücke: Diese Texte – in Originalschreibweise und als Faksimile wiedergegeben – verbunden mit den eigenen Beobachtungen und Erinnerungen des späten Nachkommens Peter Weinberger sind der Inhalt dieses historischen, dokumentarischen, literarischen und humanistischen Meisterwerks.
Hier einige der erschütternd authentischen Zitate, deren Wahrheitsgehalt, Wahrheitsgewinn über den mitgeteilten Sachverhalt noch weit hinausweist:
Brief der Großmutter an die Mutter, 1942: „Jetzt etwas neues, man hatt uns die Bezugscheine auf Fleisch, Eier, Milch, Mehl und Kunsthonig entzogen …, ich weis nicht wie weiter, wie Leben …“ (S. 113) – 1942: „Wir fahren zwischen 18.I bis 25. fort von hier… mir ist recht mis zumute, aber machen kann man nichts … Die paar Tage die wir noch da sind werde ich dir jeden zweiten Tag Schreiben. Viele 1000 Küsse von euere Mutter.“ (S. 115) – 1943: Unser Transport G.O. N. 479. Morgen früh um 5 uhr Früh Fahren wir, Gott soll uns beistehn …“ (S. 116)
Brief des Großvaters an Mutter und Vater, 1943: „Im letzten Moment vor der Abreise, da ich darauf vergaß, sende Euch zur gütigen Aufbewahrung die 2 Heimatscheine. Ich, Mama, Egon und Fredy fahren von hier nebst alle Verwandten heute früh nach Ungarisch Brod zur 3 tägigen Kasernierung, sodann nach Theresienstadt. Wie lange wir dort bleiben ist fraglich, hoffe bis nach dem Krieg …“ (S. 117)
Brief des Onkels an die Mutter ohne Datum: „Liebe Schwester! …Bitte schicke mir jede Woche ein Paket. Adresse ist E.St. Arbeitslager Auschwitz… Hauptsache ist Brod.“ (S. 138)
Mutter Lolla erzählte: „Dort im Lasallehof“, sagte sie plötzlich, „dort hat der Onkel Joschko gewohnt. Er war ein Besenbinder. Der Bartwisch zu Hause stammt noch von ihm, den und einen Besen hat er mir zur Hochzeit geschenkt. Er ist vermutlich auch in Auschwitz umgekommen.“ (S. 82) – „Ein paar Gassen weiter von uns, ein Stück abseits der Ybbsstraße, wohnten der Onkel Sandor und die Martitschl-Tante … Ja und in der Brigittenau wohnte der Onkel Isodor, der älteste Bruder meiner Mutter.“ (S. 84)
Mutter am 6.5.1946: „Ich denke mir oft, warum konnte mich keine Bombe treffen. Es ist so bitter …keinen einzigen Menschen zu haben, nicht einmal ein Grab von einem Lieben, wo man…ein paar Blumen bringen kann.“ (S. 14)
Vater an entfernten Schwager 3.6.1946: „Mit Deinen lieben Eltern waren wir bis in den letzten Tagen beisammen. Einmals eines Tages, Lolla war am Vortag bei Ihnen kam Lolla ganz verstört zurück und sagte mir, dass nun auch Deine Eltern abtransportiert worden seien. Wir wusten schon aus vorhergehenden was das heist.“ (S. 16)
Mutter am 10.12.1946: „Alle sind weg nichts ist geblieben als die traurige Erinnerung.“ (S. 19)
Peter Weinberger, 2013: „Es ist mir bewußt geworden, daß sie mich bloß eine Woche, nachdem ihre Mutter und zwei ihrer Brüder nach Theresienstadt abtransportiert worden waren, geboren hat.“ (S. 147)
Peter Weinberger, 2013: „Unser gemeinsames Versteck in den letzten Kriegsjahren, in einem Pfarrhof im hintersten Mühlviertel, hatte sie jedenfalls davon überzeugt, dass es sehr wohl auch `ehrliche Andere` gegeben hat … Deshalb haben mich meine Eltern auch für den katholischen Religionsunterricht in der Mittelschule angemeldet.“ (S. 88)
Von den Verwandten mütterlicherseits sind zwölf in KZ ermordet worden, viele von ihnen kommen uns durch ihre Briefe und Schwarz-weiß-Photos sehr nahe. Auf Seite 142 findet sich das Hochzeitsphoto von 1934 von Ing. Karl und Rosa Weinberger, den Eltern des Autors: Zwei ungemein liebenswürdige, schöne junge Menschen, die vier Jahre später in Wien schwerstem Leid ausgesetzt werden sollten. Die erst 49-jährige Mutter verstarb 1964 an Krebs …
„Irgendwann mußt du zur Kenntnis nehmen, daß du lebst“, hatte der Vater der weinenden Mutter etwa 1953 zugerufen, als sie wie so oft über den Photos der Ermordeten trauerte. Er wollte sie von dem quälenden „Schuldgefühl“ befreien … (S. 24)
Selbstverständlich hatte Frau Rosa (Lolly) Weinberger die Menschheitsverbrechen – die ihr die Seele zerrissen – nicht zu verantworten, aber es genügt, Mensch zu sein, um als Zeuge und Mitopfer derartiger moralischer Niederbrüche anderer Menschen jene entsetzliche Trauer zu empfinden, die wie ein „Schuldgefühl“ schmerzt.
Solcher selbstungewisser Tiefblick wäre der Gegenwart nicht nur zu wünschen, sondern zu verordnen um sie jenes Gewissen bilden zu lassen, das (endlich) verantwortungsbewußtes und somit vertrauenswürdiges Verhalten bewirkt.
Dem Autor und dem Verlag ist für diesen zugleich allerpersönlichsten wie profunden Beitrag zu danken.
Matthias Mander