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Peter Steiner – Der Sturz aufs Dach der Welt

Lesezeit: ungefähr 8 Minuten.

Roman

 

Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien, 196 Seiten

ISBN 978-3-7013-1185-9

 

Am 26. November 2010 hatte ich Peter Steiner zum zweiten Mal ins Schloss Seyring eingeladen, diesmal, damit er aus seinem Roman „Azimut“ lese. Einige Tage vorher telefonierte ich mit dem 73-jährigen über seine Anreise und eventuelle Hilfe hierfür. Weit gefehlt! Er befand sich soeben auf einer hoch gelegenen verschneiten Berghütte, war „heute früh schon zweimal mit den Skiern abgefahren und hatte bereits einige Seiten Prosa geschrieben!“ Nach diesem Gespräch holte ich meinen Eckermann aus der Bibliothek. Am Dienstag, dem 11. März 1828, führte der damals 79-jährige Goethe mit Eckermann folgendes Gespräch:

Eckermann: „Liegt denn diese geniale Produktivität bloß im Geiste eines bedeutenden Menschen oder liegt sie auch im Körper?“ „Wenigstens“, erwiderte Goethe, „hat der Körper darauf den größten Einfluss. …Ich hatte in meinem Leben eine Zeit, wo ich täglich einen gedruckten Bogen von mir fordern konnte und es gelang mir mit Leichtigkeit. Vor zehn, zwölf Jahren war ich produktiv genug, um oft in einem Tag zwei bis drei (Gedichte)… zu machen; und auf freiem Felde, im Wagen oder im Gasthof, es war mir alles gleich. … Es liegen produktiv machende Kräfte in der Ruhe und im Schlaf; sie liegen aber auch in der Bewegung. Es liegen solche Kräfte im Wasser und ganz besonders in der Atmosphäre. Die frische Luft des freien Feldes ist der eigentliche Ort, wo wir hingehören… Lord Byron, der täglich mehrere Stunden im Freien lebte, bald zu Pferde am Strand des Meeres reitend, bald im Boote segelnd oder rudernd, dann sich im Meere badend und seine Körperkraft im Schwimmen übend, war einer der produktivsten Menschen, die je gelebt haben.“

 

Jetzt in den ersten Märztagen 2011 erreicht mich Peter Steiners neuester Roman: „Der Sturz aufs Dach der Welt“. Der Inhalt des sichtlich mit Schwung – zuweilen grammatikalisch großzügig – verfassten Buchs ist so zu skizzieren: Wiener Neustädter Botaniker in Bolivien, für ein Pharmaunternehmen auf Suche nach seltenen (eventuell Heil-) Pflanzen, in Begleitung seiner Tochter, begehrt erfolgreich die Frau seines Assistenten (auch Freundin seiner Tochter), mit zwingend schlimmem Ausgang. Dreiundzwanzig Jahre später – längst auf dem heimischen Katzenberg zurück, erhält er von der einstigen Drei-Tage-und-Nächte-Geliebten einen Brief, der zu ausschweifenden Telefonaten mit ihr führt, die inzwischen nach einigen weiteren prekären Beziehungen in der Bretagne lebt. Spontane Bahnreise führt ihn bis vor ihr Strandanwesen…

 

Lorenzo Unterberger sammelt also Gewächse, Wurzeln, Rinden, Früchte, Samen, Flechten… auch im unzugänglichen Steilwanddickicht – was zu einem Hubschrauberabsturz führt. Sein Wortschatz: Eislicht, Klaubsteine, dunkle Quadrate, Fußpfad, nebeldüstere Regionen, Ödland, Kuppe, Vogelschau, Gegenhang, in scharfe Rippen zersägtes Relief usw. „Die Jahre im Gelände hatten mich zäh und ausdauernd gemacht.“ (S. 86). – Kernsätze seines Erzählens:

Natur: „Gebirge…, Reste einstiger Größe bewahrend, eine Halbheit in Auflösung, zerfallen bis aufs Gerippe.“ (S. 6) „…wo der Tag mit einem Aufglühen der Gipfel beginnt, während auf dem Hochland noch deren lange blaue Schatten liegen.“ (S.10)

„… der schattige Rasen warf einen bläulichen Schimmer auf die gekalkten, zum Teil von Blumen überwachsenen Mauern.“ (S. 19) „Das zu Mittag geschmolzene Eis der Gletscher hatte das Tal erreicht. Im Anschwellen und Sinken des Flusses zeigte sich der Pulsschlag des Gebirges.“ (S. 70) „Ein Rauschen erinnerte an Wind in Palmen, und schon sah ich die schlanken Bäume sich biegen und zurückschnellen wie große Vögel im vergeblichen Bemühen, vom Boden in die Luft abzuheben.“ (S. 136) „Zu meinen Füßen zeichnete ein geknickter Halm Binsengras einen Halbkreis in den Sand. Was brachte das Ried zum Schwanken, wo doch der Wind beständig aus derselben Richtung blies? Der geknickte Halm strich hin und her, die Bogenrille im Sand vertiefte sich. Ich hörte es leise kratzen.“ (S. 195)

Volksfest: „…Anblick eines alten Mannes, den Kopf regungslos gegen eine Mauer gedrückt, während ein anderer auf ihn einschlug, dass dem Geschlagenen das Blut aus Mund und Nase rann. Eine Frau warf sich auf den Zuschlagenden, riss ihn zu Boden, …wälzte den Schläger auf den Rücken… Damit hatte die Frau endgültig das Übergewicht erlangt, saß wie ein Krötenweibchen auf dem kleineren und schwächeren Männchen. Die Brüste waren ihr aus der Bluse gequollen und baumelten hervor. Sie rückte sich den flachen harten Filzhut zurecht… Ihr nächster Faustschlag traf den sich Aufbäumenden ins Gesicht… wenn das Fest gefeiert wird, wälzen sich kämpfende Menschenknäuel über dessen Plaza, ohne die Masse erhitzter Tänzer aufzuhalten.“ (S. 26)

Armut: „Vor oder in einer der trostlosen Lehmhütten auf dem Dach der Welt mit seinen blau gefrorenen Kindern auf dem Boden und grindigen Weibern, die vor dem Erdfeuer hockten, den feuchten Beinschluss mit Erde verklebt, neben sich auf einem Haufen Kartoffeln ein betrunkener Mann, dem piepsende Meerschweinchen zwischen den Beinen krochen, versuchte ich zu verstehen, wie diese Menschen die irdische Schönheit ihrer Umgebung erlebten.“ (S. 23) „Irgendeine radikale politische Gruppe, unterstützt von aufgebrachten Hausfrauen, die gegen den Versuch der Stadtverwaltung rebellierten, Wasser- und Stromzähler einzuführen, blockierte die Straße mit Steinen und einem gefällten Eukalyptusbaum.“ (S. 100)

Bergsturz: „Ein Bergsturz hatte die Straße verlegt… An einem Block von der Größe zweier Fahrerkabinen hatten sie mit entwurzelten Hortensienbüschen ein loderndes Feuer entfacht, um das Gestein so weit zu erhitzen, dass es beim plötzlichen Überschütten mit kaltem Wasser zerspränge.“ (S. 33)

Flussgoldbagger: „…schwimmende Goldgewinnungsanlage…fraß sich die Schaufelkette am vorderen Schwenkarm durch das Flussbett, hob wassertriefend Schaufel um Schaufel Sand und Geröll aus der Tiefe. Ein Fließband beförderte das ans Licht gehobene Gut auf einen Turm in der Mitte des Schiffes, wo es über mehrere Etagen hinunterkollerte, von Sieb zu Sieb,…bis zuletzt fingernagelgroße Körner übrigblieben. …Der zurückbehaltene Sand lief unterdessen mit Wasser vermengt über eine schräge Matte voll Rillen und Kerben, in denen die Goldkörner liegen blieben.“ (S.33)

Zeitgeschichte: „Die wenigen Helikopter im Land gehörten Bergbauunternehmen… Bei der Armee brauchte ich erst gar nicht anzufragen, denn jeder wusste, dass diese mit Drogenhändlern gemeinsame Sache machte.“ (S. 31) „…Gold mit dem Flugzeug außer Landes geschafft. So umging man Bergbaubehörde und Zollbeamte…, vermied zudem den Transport auf der Straße, wo Naturkatastrophen und Raubüberfälle einander die Waage hielten.“ (S. 33) Zwei Dutzend Studenten, geführt von einem Professor, glühende Anhänger von Che… in auswegloser Lage am Fuße des Steilufers…Junge Männer…krallten sich schutzsuchend aneinander, krochen weinend im Sand, flehten um Gnade… Die Soldaten taten, was ihnen befohlen wurde. Der Befehl lautet: schießen! Bald stand auch das Schilf nicht mehr, kein Halm, und die Toten lagen da wie großes Geröll.“ (S. 44) „Praxis der jeweiligen Putschisten, ihre Opfer mit Lastwagen auf den Flugplatz zu karren, von wo man sie über die Gletscher flog und jenseits davon in waldige Schluchten warf.“ (S. 110)

Unfall: „Wir flogen einen steilen Grat aufwärts, aber auch hier fanden wir keinen zur Landung geeigneten Platz. Lückenlos klammerte sich der Regenwald an die Felsen. (S. 56) „…plötzlich tauchte darin ein Baumstumpf auf. `A stump!` schrie ich, schon aber fraß sich der Heckrotor durch Moder ans kernharte Holz. Dem anfänglichen Rattern folgte ein lauter Krach. Die Maschine schoss schräg nach oben.“ (S. 58) „Schlägt der Rotor gegen ein festes Hindernis, hast du zwei Möglichkeiten zu sterben: Entweder das Rotorblatt verbiegt sich und kommt als großes Messer durch die Kanzel, oder es blockiert mit einem Schlag und seine geballte Wucht macht sich Luft am anderen Ende, indem sie den Motor zerreißt, ihn zur Granate macht. Und auf der Granate sitzen wir.“ (S. 64)

Welch eine Überfülle bildstärkster „Erinnerung, die sich am Rande des Vergessens anhäufte!“ (S. 139) Jawohl: Peter Steiners Prosa ist nach allen Regeln der Kunst secco, trocken, rau, kräftig, zupackend, welthältig. Bewertende, einwertende, die Tatsachen nach irgendeiner Wertsicht urteilend spiegelnde Sätze unterbleiben. Auch die Liebesgeschichte – eigentlich der Begehrensvollzug – wird zwar vom ersten Aufkommen an bis zur unaufhaltsamen Erfüllung genau und drastisch geschildert, doch Bedenken hinsichtlich etwaiger personaler Unverletzbarkeit bzw. der Bedingungen aufgehobener Unangreifbarkeit, oder hinsichtlich Mitbetroffener oder gar über allgemeines, langfristig zuträgliches Verhalten, kommen nicht zu Wort. Tatsächlich: Die pralle pulsierend austreibende Welt in aller reizvollen Angriffigkeit und verführerischen Bitterkeit, atemnehmend treffsicher erinnert.

 

Aber nun zum Stichwort `erinnert` eine Anfrage, vielleicht nicht an Peter Steiner, aber an seinen Helden Lorenz Unterberger: An der einzigen Stelle des Buches, die einen Anhauch von grundsätzlicher Stellungnahme, Selbst-Positionierung zeigt (S. 11), schreibt er: „… wo alte Traditionen vermengt mit christlichen Ritualen so gut wie alle Bereiche des Lebens bestimmen… Selbst die Bauherren der Hochhäuser aus Beton und Stahl… konnten es sich und ihren Bauarbeitern nicht versagen, ein Opfer an die `Große Mutter Erde` zu entrichten… Zu sehr fürchteten alle Beteiligten die Folgen einer Unterlassungssünde. Das widersprach einerseits meinem naturwissenschaftlichen Denken, andererseits brachte ich doch Verständnis dafür auf… weil ich überzeugt bin, dass in der Regel der Furchtsamste als erster vom Gerüst fällt.“ Fürwahr, ein vermeintlicher Volltreffer aus der agnostischen Büchse. Doch diese utilitaristische – damit flach abtuende – Bewertung der unsere Gattung konstituierenden außersachlichen Gezogenheit trifft zwar die unter manchen Naturwissenschaftern verbreitete Verblendung hinsichtlich des den Menschen begründenden überindividuellen Allgemeinbezugs. Unerklärlich und auch nicht im Ansatz angedeutet bleibt dann aber freilich Lorenz Unterbergers glühender Antrieb, mit einem derart überzeugenden Leistungsschub hundertsechsundneunzig Seiten lang diese ganze `erledigte` Geschichte zu erzählen. Erweist er sich in diesem grandiosen Erinnern nicht als ein seine ganze Naturwissenschaft Überschreitender, Transzendierender? Wohin auch immer. Dank der Literatur.

 

Matthias Mander