Oswiecim. Reise nach Au – Ein Auschwitzbuch 2013 von Gerhard Zeillinger und Karl Schuber
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Karl Schuber, Fotograf der 42 Farbaufnahmen, die dieses Buch enthält (z.B. Die ausgedehnten Bahnanlagen; ein einzelner Viehwaggon in Großaufnahme; die endlosen Stacheldrahtzäune samt Scheinwerfern; drei nebeneinander eingemauerte Leichen-Verbrennungsöfen mit Rauchabzügen, geöffneten Türen; verbeulte, weiß beschriftete Koffer, auf einem steht „Waisenkind Nr. 615 Neubauer Gertrude“; zerschlissene Pullkover; Beinprothesen, Bestecke, Schuhe, Haare; der Schreibtisch eines Mörders) schreibt:
„Während einer Fotografierpause saß ich am Rande jenes Wäldchens in der Nähe der Gaskammern, Krematorien, Verbrennungsgruben, in dem die Menschen auf ihre Ermordung warten mussten. Die SS ließ 1944 ihre Ankunft an der Rampe, die Selektion und das Warten auf den Tod dokumentieren. Diese Bilder sind im `Auschwitz-Album` zu sehen … Die Beschäftigung mit Zeitgeschichte hat mir auf meine Frage keine Antwort gegeben: Wie kann das sein? Warum?“
Vor etwa 50 Jahren, als ich 30 war, habe ich alle mir damals beschaffbare Literatur über die Konzentrationslager gelesen. Viele Berichte und Szenen habe ich bis heute nicht vergessen. Und es vergeht keine Woche, in der ich nicht mindestens ein Mal das laufende öffentliche Geschehen und meine persönlichen Zustöße vor diesem Hintergrund – Abgrund betrachte und bewerte. Und nun plötzlich ein neues Buch: „Oswiecin. Reise nach Au“ von Gerhard Zeillinger und Karl Schuber. Die rund 70 Jahre nach jenem absoluten Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte ermöglichen es den Autoren, den Ort Auschwitz mit einem neuen Blick aufzusuchen, diesen geographischen Begriff als Inbegriff der Verkehrung, Entartung, Pervertierung unseres Gattungswesens anzusehen – und mit vollkommener Trauer anzuschauen, zu durchschreiten, zu durchdenken, zu beschreiben.
In diesen neun Texten ist viel von Wäldern – Birken, Erlen, Pappeln, Eichen – die Rede, viel von den Wolken, vom Tageslicht und vom Schattenfall, vom Wind über den Feldern, von den Gebäuden und Vorrichtungen des Massenvernichtungslagers, von den Gedenkstätten und von vielen Namen der Ermordeten: „Jacob, Ines, Klara, Leon, Jetti, Berta, Milena, Fanny, Max, Stella, Richard, Olga …“
„… Auf der Rampe. Diese lange Gerade, die so unbeirrbar und unkorrigierbar daliegt. Aber von der anderen Seite her, aus der Sicht der Lebenden, ist alles ganz einfach: Drei Eisenbahngleise, sechs geometrische Linien münden direkt auf das Lagertor zu, eine Richtung, die es damals nicht gegeben hat. Man kann ihr …folgen: Dem pfeilgraden Lauf nähern sich von links zwei Gleise an, das äußerste eine unabwendbar schräg einlaufende Gerade, das Gleis in der Mitte schwingt in einer Kurve nach rechts und schmiegt sich im stumpfen Winkel der von links kommenden Bewegung an. Es fließt in den … Strang, ehe dieser unmittelbar danach in das gerade auf das Lagertor zulaufende Hauptgleis einmündet: Ein kurzer flüchtiger Rechtsschwung, dann noch wenige Meter und man passiert das Tor.“ (S. 46) „Kam ein Transport an, wurde zusätzlich die ‚kleine‘ Postenkette aufgezogen. Die Wachmannschaft stand entlang der Gleise, alle paar Meter ein Wachposten mit Sturmgewehr, dazu die Hundestaffel, das Rampenkommando. Das Gelände, das die Ankömmlinge durchschritten, lag innerhalb der ‚ großen‘ Postenkette, Wachtürme im Abstand von 150 Metern, doppelte Umzäunung, elektrischer Strom.“ (S. 29) „Als ihr Transport im Lager ankam, wurden die Neuzugänge nicht mehr fotografiert, das Filmmaterial war knapp und teuer. Mit der Zeit wäre ein unüberschaubares Bildarchiv entstanden, mehr als 100.000, mehr als 1000.000 fremde Gesichter, den Menschen, die sie einmal waren, unähnlich geworden, nur noch durch Nummern zugeordnet. Sie wären heute eine unbetretbare Galerie, an der nichts mehr lebendig wäre, unwirkliche Gesichter, Augen von Gespenstern.“ (S. 18)
„Der Landstrich … ist das sogenannte ‚Interessengebiet des K.L. Auschwitz` ein ungefähr 60 km2 großes Sperrgebiet.“ (S. 10) „Die Anlage von oben, wie sie Piloten amerikanischer Aufklärungsflieger erstmals am 4. April 1944 vor sich gehabt haben…: Man sieht deutlich die Bahnanlagen, sieht sogar die Rampe… dahinter Wiesen und Felder, ebenso abstrakt wie genau entworfene geometrische Formen, die einem nicht beschreiben, wie das alles geschah…“ (S. 36) „Das unscharfe Foto nackter Frauen, die auf dieser Lichtung in die Gaskammer laufen, tatsächlich im Laufschritt … ist eines der wenigen Zeugnisse … einer der Häftlinge hatte heimlich fotografiert, aufgeregt, er hatte nicht die Zeit scharfzustellen, er konnte nicht die Kamera gerade halten, es sieht aus, als wäre der Hinrichtungsort eine einzige Schräge. Auf dem zweiten und dritten Bild der Rauch, dichter Qualm, davor die toten Frauen, dazwischen die Männer des Sonderkommandos, die sich an den bleichen Körpern zu schaffen machen.“ (S. 40) „Die Felder sind abgeerntet und liegen jetzt wie Brachland da. Darüber beugen sich die dünnen Schatten der Erlen und Pappeln, sie fallen verzerrt, wie von Schmerz verbogen liegen sie im Gras. Auch die Schatten der Betonpfeiler… liegen merkwürdig gekrümmt …“ (S 30)
Dieses Werk ist ein höchstrangiges Dokument der gebotenen Auseinandersetzung mit dem Holocaust sieben Jahrzehnte nach jenem Niederbruch, Absturz aller Kulturentwicklung. In meinem Roman „Die Holschuld“, 2012, sagt die Figur Merker: „Mit dem 20. Jahrhundert sind wir nämlich noch lang nicht fertig! Denn dieses hat unsere ganze Tollheit bloßgelegt.“ (S. 285) Das Buch Gerhard Zeillingers und Karl Schubers trägt auf nobelste Weise dazu bei, diese Aufarbeitung zu befördern. Mögen viele, mögen alle nach dieser gedruckten Botschaft greifen!
Matthias Mander
Oswiecim. Reise nach Au
Ein Auschwitzbuch 2013 von Gerhard Zeillinger, Text, und
Karl Schuber, Fotos
Literaturedition Niederösterreich 2013
ISBN 978-3-902717-17-7
ISBN 978-3-902717-17-7