Marianne Gruber – Erinnerungen eines Narren
Lesezeit: ungefähr 4 Minuten.
Roman 316 Seiten
2012 HAYMON verlag Innsbruck-Wien
ISBN 978-3-85218-730-3
Nichts an mir war ich
Schade um die Zeit für das Lesen dieser Rezension, bitte greifen Sie nach dem oben bezeichnetem Buch und lassen Sie sich ein Universum von Lebens- und Weltwirklichkeit schenken, das Ihnen in vollendeter Erzählkunst unmittelbar erschlossen wird! Nur weil es hier Aufgabe ist, sei – mangelhaft genug – dessen Inhalt berichtet:
Ein alter Zirkusclown antwortet in seinem abgedunkelten Sterbezimmer einem im Hintergrund bleibenden Fragesteller mit der Preisgabe seines schier allumfassenden Bewusstseins- und Erkenntnisstroms, gespeist aus Schicksalserfahrungen in der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Mitteleuropa. Als Wiener Internatsschüler aufgebrochen zu langen Eisenbahn-Irrfahrten, schloss er sich einem Wanderzirkus an, der zwischen allen Fronten gejagt eine prekäre Fluchtexistenz in der Schweiz verteidigt, erbärmlich mit allen Künstlern und Tieren immer wieder Vorstellungen bietend – verfolgt, beschädigt, dezimiert – überlebt, sogar in Kampfhandlungen gerät, im italienischen Grenzgebirge das Kriegende durchmacht. Europas Stunde Null spült den Clown wieder kurzfristig nach Wien, wo er Schmerzhaftes erkennt, ehe er neuerlich die Arbeit in der unsteten Manege aufnimmt.
Dieser Inhaltsaufriss verrät noch nichts von der Qualität des Romans, die nur durch eigene Lektüre zu erschließen ist: Zugleich delirierende und gleißend klare Sprache, hunderte packende Szenen und unerhörte Situationen, tiefes Verstehen der Hauptgestalten und blitzartiges Erfassen der oft schicksalhaften Nebenfiguren, ergreifender Aufweis der Tragik allen Überlebenswillens, aber auch Nachweis des unaustretbaren Funkens menschlichen Rangs.
Die Substanz freilich des vorzustellenden Romans von Marianne Gruber ist seine singuläre Prosa. Voll genauester Lebensentsprechung, bar jeder Anmaßung, so atemnehmend wahr, wie es gemeinhin der Sprache nicht zuzutrauen wäre. Die magistrale Autorin hat hierfür eine vielschichtige, selbstprüfende, helläugig umsichtige Erzählweise entwickelt für simultane Miterfassung auch aller einwirkenden Quersträhnen, wodurch buchstäblich jeder Gedankengang, jede Wortwendung bis in letzte Fugen ausgebreitet und ausgeleuchtet werden. An ihrer Hand lernt man alles zu durchschauen und einzuwerten! Wiederholt wird der Leser an Zwölf-Ton-Musik gemahnt, deren kleinste Übergänge, Isomorphie mit allerinnerster existentieller Evidenz, oder an ozeanographische Messungen von Tiefenströmen, Zeugnisse der komplexen Adhäsion der Wassermoleküle, die ja nur wegen ihrer mysteriösen Anomalie unseren Planeten Erde zum Lebensort machen. Weltschöpferische Irregularität des Wassers und der ihr analogen Exklusivität solcher Prosa! (H zwei 0, aber die beiden H-Atome stehen zum 0-Atom im Winkel von 104 ° statt den üblichen 90 °- Winkeln der H zwei X-Moleküle.)
Der umfassend Rechenschaft gebende Narr erzählt seinem Fragesteller auch von den Erhellungen, die er aus denkerischer Befassung mit Archimedes (S. 25 ff), mit der spanischen Gegenreformation im 16. Jh. unter Philipp II (S. 94 ff), mit Shakespeares Romeo und Julia (S. 139 ff), mit Othello (S. 178 ff), mit dem Halbgott Marsyas (S. 253 ff) und dem unsterblichen Vogel Phönix (S. 290 ff) gewonnen hat: Diese Untersuchungen und Auslegungen zählen zu den intelligentesten und konstruktivsten Texten, die man hierzulande lesen kann.
Am 1. August 2012, dem letzten Tag meines 79. Lebensjahrs, habe ich dem Verlag das dritte Buch meiner Garanas-Trilogie geliefert. Nachmittag las ich wieder im Marianne Grubers Roman weiter und fand jenen auch mir entscheidenden Satz, den ich selbst in vielen auch introspektiven Seiten nicht zustande gebracht hatte: „Diese…Seiten… waren mein Versuch, etwas von meiner Würde zu retten..! “ (S. 255) Ja, das ist der tiefste Grund vieler Anstrengungen.
Dieser Roman schenkt jedem Leser seinen Rang im Getümmel ständiger Prüfungen und der österreichischen Literatur ihren Maßstab.
Einige Zitate aus den so ebenso leise wie unauslotbar vorgebrachten „Erinnerungen eines Narren“:
„Dass ich rede, besagt nichts…“ (S. 5)
„… das ganze schöngeistige Gestammel, das sich in den Köpfen der Wissenden ansammelt, mit denen sie auf den Leibern der stumpf dienenden Massen stehen…“ (S.6)
„Wenn sie flüsterten, wusste ich, dass es gegen mein Leben ging, wenn sie schwiegen, dass es entschieden war…“ (S. 21)
„ … von der Zunge, diesem tauben Kochlöffel, mit dem man die Worte zu Schaum schlägt…“ (S. 25)
„.. die Saat, die wir nicht mehr werden aufgehen sehen, obwohl sie die unsere ist, an die andere Hand anlegen werden, aus anderen Welten…“ (S. 48)
„Ganz zum Schluss ist man bereit, sich zu vergeuden…“ (S. 54)
„Selbstüberschätzung hat ihren Wert, zumindest solange man sie nicht bemerkt.“ (S. 56)
„Mit jedem Satz, den man von sich gibt, liefert man sich mehr und mehr der Welt aus und verliert seine Unschuld.“ (S. 64)
„… das Spiel mit der Macht… wenn man den anderen seine Regeln aufzwingen kann und sie selbst bricht.“ (S. 69)
„.. an Stelle einer Zunge ein hübsches Sortiment Rasiermesser im Mund tragen.“ (S. 78)
„…mit oder ohne Glauben scheint es, als wäre man nichts ohne die Wörter, die vor einem da gewesen sein müssen.“ (S. 85)
„Hinter der Maske… war nichts an mir ich.“ (S. 89)
„Er hatte keinen anderen Weg in die Welt gelernt als den, zu besitzen, und nichts, das ihn mit dem Unerreichbaren versöhnen konnte.“ (S. 142)
„…Verzweiflung des Wissenden angesichts des Toren…“ (S. 147)
„Empörern Sie sich, auch wenn es nichts nützt, es ehrt Sie.“ (S. 152)
„Wer leben will, muss lügen können.“ (S. 180)
„Man kann in der Welt leben, ohne sie zu begreifen, man muss es nur verstehen, etwas zu essen zu bekommen.“ (S. 192)
„Totstellen hatten (die Pferde) im Zirkus gelernt… um sich fallen zu lassen und den Tieffliegern zu signalisieren, dass es hier nur noch Leichen gab…“ (S. 234)
„Diese wenigen Seiten waren das Einzige, das mir gehörte… sie waren mein Versuch, etwas von meiner Würde zu retten…“ (S. 255)
„Was werde ich sehen..? Nichts, oder du stürzt ab. – Es war so weit… ich… sah…in die Gesichter der Besucher…“ (S. 304)
Matthias Mander