Joseph Peter Strelka – Dichter als Boten der Menschlichkeit
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Joseph Peter Strelka
Dichter als Boten der Menschlichkeit
Literarische Leuchttürme im Chaos des Nebels unserer Zeit
Edition Patmos, Francke Verlag 2010
ISBN 978-3-7720-8386-0
Der Autor fragt sich rhetorisch im Vorwort, ob Romane „zur Bewusstwerdung der wichtigen Probleme menschlicher Sozialordnung“ etwas beitragen können und gelangt zum Schluss, dass dies auf zweifache Weise geschieht: Neuordnung des Zusammenlebens und Konzentration auf den Einzelnen! Namen wie Aldous Huxley („Brave New World“, 1932), George Orwell („1984“, 1949), Ray Bradbury (“Fahrenheit 451”, 1953) beweisen, wie dem Totalitarismus entgegengetreten wird. Über zwanzig Jahre nach Erscheinen seines Roman repetierte Huxley in einer Neuausgabe: „Ich brauche keine Bequemlichkeiten. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend. Ich will Sünde.“
Strelka „versucht, mit den Augen der Dichtung einen Blick auf wesentliche Teile unseres Planeten zu werfen“. Sein Buch stellt 21 Autoren aus 21 Ländern, 6 Kontinenten vor, davon 14 Nobelpreisträger. (Nigeria, Israel, Österreich, Frankreich, USA, Mexiko, China, Brasilien, Deutschland/Schweiz, Irland, Japan, Griechenland, Schweden, Kanada, Ägypten, Polen, Indien, Italien, Sowjetunion, Peru, Australien) Auf 373 Seiten – ohne Vorwort und Personenverzeichnis mit 621 Namen – werden jeder Dichterpersönlichkeit etwa 18 Seiten gewidmet mit Lebens- und Werkbeschreibung, vielen Inhaltsangaben und Zitaten sowie literarischen und sekundärliterarischen Verweisen und Einwertungen. Die Summe aller Lebensjahre der 21 Autoren beträgt 1543, also durchschnittlich 73,4 Jahre, die im statistischen Mittel zwischen 1904 und 1978 durchlebt wurden. Die Darstellungen sind mit 466 Fußnoten unterlegt, hauptsächlich Hinweise auf Originalzitate und Sekundärliteratur.
Es werden dem Leser insgesamt über 100 Werke vorgestellt.
Joseph Peter Strelka, Jahrgang 1927, lehrte deutsche und vergleichende Literaturwissenschaften an verschiedenen Universitäten in Europa, Südafrika und den USA und ist einer der bekanntesten Literaturwissenschafter seiner Zeit. Sein Zugang zu dem Titelthema ist die Auswahl hervorragender Autoren des letzten Jahrhunderts aus einundzwanzig Literaturen der Welt unter Kriterien literarischer Qualität und normativer Relevanz. „Wenn ein Werk nur aktuell ist und den Blick auf die Dinge sub specie aeternitatis verliert, dann wird es rasch sterben. Sollte ein Werk aber umgekehrt zu viel oder nur Gewicht auf die Ewigkeit legen und Aktualität völlig vernachlässigen, so verliert es Farbe, Kraft und Atmosphäre.“ (S.12) Heimat und Kindheit stellen sich für alle Dichtungen als entscheidende Quellen dar, weshalb von einem „transzendenten Regionalismus“ gesprochen wird. Strelkas Zielsetzung für dieses Buch ist treffend mit folgender Aussage Solschenizyns offengelegt: „Wäre es irgendeiner Nation möglich, die bitteren Erfahrungen einer anderen durch die Lektüre eines Buches mit zu erleiden, so würde ihre Zukunft gewiss heller sein, weil viel Unglück und viele Fehler durch rechtzeitige Einsicht vermieden werden können.“ (S. 13)
Die Kapitelüberschriften sind schon Programm: Chinua Achebe (Nigeria): „Alles fällt auseinander“. „Wesen, Sinn und Mythos der analphabetischen Ibos in englischer Sprache dem Rest der Welt mitzuteilen… ihre eigene lebenserhaltende Kultur, ihr eigenes Wertsystem und ihre eigene Würde.“ (S.24) „…es ihm unmöglich ist, gegebene Gesetze von Menschen zu akzeptieren, die unfähig sind, die Welt in ihrer Komplexität zu sehen: `die Fanatiker jeglicher Sorte von rechts wie links und die Fundamentalisten aller Art`“. (S.28) – – –
S.J. Agnon (Israel, Nobelpreis 1966) und seine eigentliche Heimat Jerusalem. „Der ideale Leser, der ihm vorschwebt, ist jemand, für den die Traditionen heiliger Schriften eine völlig natürliche Bildungsvoraussetzung darstellen.“ (S.36) – – –
Hermann Broch (Österreich) und seine Massenwahntheorie. „Echte Kunst durchbricht Grenzen und betritt neue Bereiche der Seele, der Schau, des Ausdrucks, bricht durch ins Ursprüngliche, Unmittelbare, Wirkliche“ (S.56) „… seine Ordnung, die Pax Romana wird untergehen während das Werk des Dichters bestehen bleibt.“ (S.57) – – –
Camus (Algerien/Frankreich, Nobelpreis 1957) und das Absolute. „Für alle Menschen, die ohne die Kunst und das, was sie bedeutet, nicht leben können, geht es nur um die Frage, wie inmitten der Schergen so vieler Ideologien (wie viele Kirchen, welche Einsamkeit) die seltsame Freiheit der Schöpfung erhalten bleiben kann.“ (S. 83)„… dass der…Schriftsteller …im Dienst deren zu stehen hätte, die Geschichte erleiden.“ (S. 81) „Tausende von Lagern und Gefängnisgittern genügen nicht, um dieses erschütternde Zeugnis der Würde zu verdunkeln.“ (S.83) – – –
Faulkner (USA, Nobelpreis 1950) und die mögliche Größe des Menschen. „… Leiden sind nötig, dass der Mensch zwischen Freiheit und Willkür unterscheide.“ „…woran das Herz sich hält, das wird Wahrheit, soweit wir Wahrheit kennen.“ (S.91) – – –
Carlos Fuentes (Mexiko), der elegante Kosmopolit. „Allerdings muss diese jahrzehntelange Erfahrung zuerst aus dem Bewusstsein tief ins Unterbewusste sinken, – Rilke nannte es einmal dichterisch `Teil des Blutes werden`“ (S.122) „Ach, …ein Gringo in Mexiko zu sein, – das ist Euthanasie.“ (S.124) – – –
Gao Xingjian (China, Nobelpreis 2000) oder der unzerstörbare Drang zur Freiheit. „Dichtung…existiert dadurch, dass die Menschheit eine rein spirituelle Tätigkeit jenseits jeglicher Belohnung durch materielle Wünsche anstrebt.“ (S.140) „…machtvolle Antwort auf Zeit und Gesellschaft. Darin und in der Möglichkeit, einem Leser viel zu bedeuten, wo nicht gar zu helfen, besteht die Eigenwürde der Dichtung.“ (S. 141) – – –
Joao Guimaraes Rosa (Brasilien) oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien;
„In seiner Zeit als Banditenführer hat Riobaldo einen Traum vom Ende allen Hungers in der Welt.“ „Als er einmal an der Spitze seiner Männer durch ein Dorf ritt, das durch eine Krankheitsepidemie völlig verseucht ist, da vertrauten seine Banditen nicht mehr allein auf die Amulette… beteten einfach das Ave-Maria und Vaterunser.“ (S.162) – –
Hermann Hesse (Deutschland/Schweiz, Nobelpreis 1954) Weg nach innen. „Es kam mit den Reden Hitlers und seiner Minister; mit ihren Zeitungen und Broschüren war etwas wie Giftgas aufgestiegen, eine Welle von Gemeinheit, Verlogenheit, hemmungsloser Streberei, eine Luft, die nicht zu atmen war. Es bedurfte der erst Jahre später bekannt gewordenen Gräuel nicht, es genügte dies Giftgas, diese Entheiligung der Sprache und Entthronung der Wahrheit, um mich…vor den Abgrund zu stellen.“ (S. 173) – – –
Die tragikomische Hochkunst des James Joyce (Irland). „Die Absicht von Joyce ging dahin, zu zeigen, dass das Gewöhnliche das Außergewöhnliche sein konnte, … die banale Alltagswirklichkeit… als geheime Offenbarung zu erblicken.“ (S.191) – – –
Yasunari Kawabata (Japan, Nobelpreis 1968) und die Ästhetik der Leere. „Das aber führt hinein in das Zentrum der dichterischen Gestaltung des Romans `Schneeland`, von dem zu Recht wiederholt gesagt wurde, er wäre im Haiku-Stil geschrieben.“ (S. 212) – – –
Des Nikos Kazantzakis (Griechenland) Weg zur Vergeistigung. „Und keiner vermag die Erde zu bezwingen, der nicht tapfer, zäh und ohne Zugeständnisse mit ihr kämpft.“ (S.232) – – –
Selma Lagerlöf (Schweden, Nobelpreis 1909) und die Rechte der Unterdrückten. „Rede, …in der sie die weibliche Leistung, durch ein Heim Frieden und Geborgenheit zu schaffen, über alles stellt und sie der männlichen Leistung, Macht und Gewalt des Staates zu begründen, entgegensetzt.“ (S.249) – – –
Malcolm Lowry (GB, Kanada):Zwischen Katabasis und Idylle. „Und so denke ich… an mich selbst wie an einen großen Forscher, der irgendein unbekanntes Land entdeckt hat und niemals von dort zurückkehren kann, um der Welt davon Kenntnis zu geben; aber der Name dieses Landes ist Hölle.“ (S. 252) – – –
Nagip Machfus (Ägypten, Nobelpreis 1988) und das ägyptischeTotengericht. „Echnaton, mit dem Untertitel `Der in der Wahrheit lebt`, der …seinen Untertanen einen monotheistischen Gott verordnet hatte… Roman von hoher Kunst und großer Schönheit, gipfelt im Besuch des fiktiven Erzählers …bei der vierzigjährigen Witwe Echnatons, der Königin Nofretete, die in der verfallenden… Residenzstadt…, umgeben von einem üppigen Garten, gefangen gehalten wurde.(S. 274) – – –
Czeslaw Milosz (Polen, Nobelpreis 1980) oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit. „Ulro, das ist das geistige Land der `Heimatlosigkeit, der Enterbtheit, des aus dem Paradies der Ganzheitlichkeit vertriebenen Geistes`, das `Ödland der rationalistischen Zersetzung`, der mechanistisch missverstandenen Welt, welche die Voraussetzungen lieferte für all die Massenaktionen fanatischer Grausamkeit und Unmenschlichkeit des 20. Jahrhunderts.“ (S. 287)
Vidyadhar Surajprasad Naipul (Indien/Trinidad, Nobelpreis 2001) oder die Welt ist, was sie ist. „Man darf keine Idealvorstellung von der Welt haben. Das ist die Wurzel allen Übels.“ (S. 301) Er zeigt die Entwicklung der Insel Trinidad vom späten Feudalismus zum frühen Kapitalismus und gibt… eine Totalitätsschau, weshalb man das Buch auch `universal` wie die Romane von Dickens und Tolstoi genannt hat.“ (S.302) – – –
Pirandello (Italien, Nobelpreis 1934) oder der Zerfall des Ich. „… endet in einer letzten Freiheit…wo er täglich frühmorgens in die Natur aufbricht, in einer Geisteshaltung, welche verhindert, dass er in seinem Inneren die falsche Leere eitler Gedankenkonstruktionen entstehen lassen könnte.“ (S.327) – – –
Alexander Solschenizyn (UdSSR/Russland, Nobelpreis 1970) und die Warnung vor Vollversklavung. „Skeptizismus ist eine Form der Eindämmung des Fanatismus…der Entkrampfung dogmatischer Denkweisen. (S.341) In Solschenizyns Roman `der erste Kreis` steht der Satz: `Je edler und ehrlicher ein Mensch ist, desto schweinischer wird er von seinen Landsleuten behandelt. `“ (S. 352) – – –
Mario Vargas Llosa (Peru, Nobelpreis 2010) und der Wille zur Freiheit. „…dass er ein Schriftsteller werden wollte, und sei es um den Preis des Verhungerns, weil es die beste Sache der Welt sei.“ (S.356)
Patrick White (Australien, Nobelpreis 1973) und der australische Roman. „`Ich bin ein Fremdling aller Zeiten` … Da waren diese leeren talgigen Gesichter und er musste noch zugeben: `O Gott, ich fühle mit ihnen, denn ich weiß genau – sie sind, was ich bin und ich und sie sind auswechselbar. `“ (S.378)
Sprache und Tonfall dieses Riesenwerks des 84-jährigen Literaturwissenschafters und leidenschaftlichen Menschenfreundes Joseph P. Strelka erinnern an einen Orgelvirtuosen, der sich ohne Noten an sein Instrument setzt und musikalische Meisterwerke mit größter Könnerschaft und Einfühlung in einen riesigen Resonanzraum hinein zu Gehör bringt. Im gebannt voranblätternden Lesen dieser magistralen Zusammenschau hört man geradezu die vortragende, wissende, erklärende, beschwörende Stimme des Lehrers, der zeitlebens die Ernte seiner wissenschaftlichen Arbeit vor den aufmerksamen Zuhörern großer Säle ausgebreitet hat. Mit dieser zu Papier gebrachten Gesamtsicht schenkt uns der gebürtige Wiener Neustädter nicht nur ein immenses Instrumentarium, unsere Welt durch hunderte Augenpaare so umfassend und durchdringend zu sehen, wie es in 1543 gleichzeitig durchlittenen und bestandenen genialen Lebensjahren zu dichterischen Spitzenleistungen unseres Jahrhunderts erdumgreifend erarbeitet wurde, sondern auch Gedankentiefe, Gefühlsreichtum, „Frömmigkeit“ im Sinn von Existenz aufschließender pietas: Schlüsseleigenschaften zum Eintreten in die ganze Daseinsannahme mit Wahrheitsnähe. Solche Bewusstseinsintensität, Wissensfülle, Sprach- und Unterscheidungskraft, seherische Lebendigkeit, Gefühlstiefe, durchgebildete Nächstenliebe schenkt nur Dichtung, die zugleich mühsamste und hinreissendste Kunst. Joseph P. Strelka hilft uns, sie zu erschließen.
Matthias Mander