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Franz Richter – Grabrede

Lesezeit: ungefähr 9 Minuten.

Sehr verehrte Frau Edith Richter, sehr verehrter Herr Dietrich Hellebrand, sehr verehrte Trauergemeinde, liebe um den Sarg und das offene Grab Franz Richters Versammelte!

 

Franz Richter schrieb:

 

Was bleibt vom Dagewesen-Sein?

Ich bin hier vorgekommen

wie jeder Kieselstein,

der an dem Stelldichein

des Erdgangs teilgenommen. „

 

Wir stehen vor dem Sarg des für viele von uns besten Menschen, dem wir je begegnet sind: Leuchtend vor Nächstenliebe, strahlend vor Wahrheitsliebe, verströmend im Gutsein, hingegeben dem Dienst am Wort, leidend an der Ohnmacht vor Fehlweisendem, Herzlichkeit und Glück schenkend jedem Mitmenschen, der sich ihm näherte: So kennt jeder Franz Richter: Ja, er ist hier vorgekommen, hat am Erdgang teilgenommen, wie man aufmerksamer, arbeitsamer, einfühlsamer, mitteilsamer, und streckenweise einsamer nicht teilhaben könnte.

 

Vor zehn Jahren, anläßlich seines 80. Geburtstags, war er im März 2000 ins Schloß Seyring eingeladen. Dieser Abend ist einmalig – und einmalig erhellend – verlaufen: Nach dem Vortrag seiner Gedanken, seiner Gedichte, griff Franz Richter zur Violine und spielte den Lauschenden Mozart vor… Denn er wollte alles bieten, er wollte sein Bestes geben. Da er meinte, sogar seine höchste Wortkunst reiche nicht aus, das Wahre, Rettende auszusagen, führte ihn seine Gutmütigkeit zu den Himmelsklängen aus seinen Händen, um uns ganz zu beglücken, ganz zu überzeugen.

Ja, Franz Richter war ein Überzeuger, ein Haupt- und Kronzeuge für höchstes Menschentum in unablässigem Verbinden intellektueller und ästhetischer Einsicht mit unprätentiöser, praktischer Nächstenzuwendung.

 

Professor Dr. Franz Richter, geboren am 16. Jänner 1920, gestorben am 1. Mai 2010, geistig und leiblich vom schlimmen 20. Jahrhundert geprüft, war akademischer Naturwissenschafter, studierter Chemiker, erfolgreicher Pädagoge, Sachbuchautor, zugleich und eben deshalb ein unverwechselbarer Dichter, war Medium eines poetischen Durchblicks, wie er uns kein zweites Mal gegeben wurde. Mit dem Roman „Spaltklang“ hat er ein Prosawerk vom „Erbteil Europas 1933 bis 1955“ vorgelegt, das Werk eines Bewährten, das im Titel seine Nähe zur Musik erweist, das unsere Zeitgeschichte erzählt, miterlitten, nachprüfbar, das Welt- und Menschenkenntnis, Kunstverstand, schriftstellerische Präzision belegt, die nur einem Mann mit solchem Werdegang eigen sind – in Disziplin abgetragene, in ein Wahrheitsdenkmal verwandelte Lebenslast.

 

Seine herzzerreissende Bescheidenheit veranlasste bereits 1987 Edwin Hartl nach Erscheinen des „Spaltklangs“ zur Formulierung in der PRESSE: „Man muß diese erschütternde Insiderstory für ihn verlautbaren…“

 

Ich zitiere aus diesem Roman: „Seit Menschengedenken war der Steinbruch Arbeitsplatz für Gefangene… Vom Rohmaterial eines Kalkbergwerks zu gebranntem Kalk! Wer da hinter Stacheldraht schlief, wer gelegentlich in Fünferreihen zur Oka marschierte um dort Eis aufzuhacken, kümmerte die Bauern wenig… Auf den Lagerulmen krächzten die Krähen mit uns um die Wette… An der Arbeitsstätte aber harrten stumme Lehrer: In den Sedimenten des Karbons und Perms stießen wir auf deutlich gegliederte Trilobiten. Die Monumentalität Millionen Jahre alter Lebensgehäuse zerfiel in wenigen Stunden in weißes Pulver…

Kein Stacheldraht, keine Lagerenge hat meine Jugend von meinem Nomadentum abbringen können. Im sprunghaften Revuecharakter rauschten die Tage vorüber, Szene um Szene ohne logische Bindung, dort ein knalliges Abendrot, hier eine silberne Steppendistel, dort der Blütenschrei eines Kirschbaums, jeder schöne Anblick ein Versteckspiel des Werdens und der stürmischen Unaufhaltsamkeit hinter einem nur scheinbar beharrenden Sein.

Es hat glückliche Stunden gegeben, da ich vorm Stacheldraht hockte, den Blick auf einen Baum, den nun nach trockenem Sommer und bei schlechtem Standort der Herbstwind zurechtstutzte… Hoch oben trieb der Wind seine Wolkenherde vor sich her. Mich aber erfüllte mönchische Ruhe. Niemals hätte mein Charakter aus sich selber so gelassen zu werden vermocht…“

 

Wer so über seine Kriegsgefangenschaft in Rußland sprechen konnte, war ein Begnadeter. Was hat doch dieses bittere 20. Jahrhundert dem 1920 in die Erste Nachkriegszeit Hineingeborenen in die Wiege gelegt, auf die Seele gebunden, ins Herz gebohrt? Dem 14-jährigen die Februar- und Juli-Katastrophen; dem 18-jährigen den Staatsuntergang; dem 19-jährigen den ärgsten aller Kriege; dem 25-jährigen die Gefangenschaft, die Zweite Nachkriegzeit; dem 35-jährigen die Wiederaufbauplagen; und dann Jahrzehnt um Jahrzehnt grenzenlose Verausgabung im Ringen mit einem Zeitgeist, der genau jene Lehren, die Franz Richter leidvoll gewonnen hatte, nicht ziehen wollte. Sein ganzes Werk ist ein mit glühender Stirn erarbeiteter Aufruf zu universeller Humanität, zu einer Weltschau, die alle Disziplinen, Regionen und Temperamente unter dem Wunder der Poesie vereinigt.

Ihm ist zur Durchsetzung seiner Einsichten nie etwas anderes eingefallen als selbst immer besser zu werden, sich selbst zu vervollkommnen, immer noch präzisere, noch schönere, noch weiter gespannte Gedichte zu schreiben, immer noch mehr gute Werke von Mensch zu Mensch, von Kollege zu Kollege zu tun.

 

Franz Richter, der als 20-jähriger 8 wertvolle Jahre seines Lebens bar jeder Selbstbestimmung an Krieg und Gefangenschaft verlor, der als 30-jähriger dennoch Doktor der Philosophie wurde, akademischer Lehrer, Schriftsteller, als 55-jähriger 1975 Präsident des Österreichischen Schriftstellerverbands und ein Jahr später für 15 Jahre Generalsekretär des österreichischen P.E.N.-Clubs, dieser Autor von 21 Büchern, Träger vieler Auszeichnungen war der Inbegriff von Fleiß und Freundschaftlichkeit.

 

Seine Veröffentlichungen umfassen außer den 21 gebundenen Werken aberhunderte Titel von Buch- und Zeitschriftenbeiträgen, Herausgeber- und Nachwortleistungen sowie ORF-Sendungen.

Die Bücher umfassen 5 Prosatitel, darunter neben dem Roman „Spaltklang“, der Bewältigung seiner Kriegs- und Gefangenenjahre; noch „Kein Pardon für Genies“, 12 Charakterbilder; „Gestalten der Liebe“, erdachte Briefwechsel, literarische Porträts; „Pfauensommer“, Erzählungen; sowie 13 Gedichtbände mit etwa folgenden Titeln: „Lob der Weltvernunft“, „Geheimes wird Signal“, „Lichtecho“, „Anbruch der Vergangenheit“; schließlich drei Aphorismenbände „Im Wendekreis der Blume“, „Kurz gefasst, lang bedacht“ und „ Bruchwerk einer Umbruchzeit“, die stilistisch-philosophische Totalschau des 85-jährigen.

Überallhin vermochte er mit seinen Gleichnissen Fenster aufzustoßen in andere Bereiche, der Lehrer, der Chemiker, der Mathematiker, der Biologe, der Dichter, der Musiker – jeder Bereich hat seine eigene Sprache, sie sind nicht identisch, aber analog. Daher sagte Richter, „Die Welt ist keine Gleichung, sondern ein Gleichnis!“Dieses Bekenntnis führt Begriffenes und Geschautes aneinander.

 

In einer Radiosendung vom 6.6.1993 urteilte Michael Guttenbrunner über seinen Kollegen so: „Für Franz Richters Gedichte charakteristisch ist die spannende Formkompilation von Alt und Neu; von Tiefschürfen und Vogelschau; durchtriebenste Technik; Frommsein; Virtuosität. Ferner das Zeitdiagnostische; moderner Wissenschaftssprache entlehnte Begriffe, neben lang herabgeerbter Formschönheit; Körniges neben Spiegelglätte. Vieltrittige Läufe, stets taktvoll unterbrochen, wo das Gefühl für den feinen Zweck der Verskunst es so haben will. Richter ist auf diesem Gebiet ein in jeder Hinsicht und auf jede Weise ‚vielgewanderter Mann‘. Das Ergebnis ist im Gedicht, wie eine alte Formel lautet, ‚vielfach und zugleich zu sein‘. Dabei bemerkenswert das Rhetorische, Diskursive, Argumentative, zum gesellschaftlichem Vortrag Reizende. Und kein Monolog. Richters Gedichte sind durch und durch sozial gesinnt. Da ist keins, das sich selbst verzehrte in ‚ungenügender Sehnsucht‘; keins darin Arroganz und Nächstenhass einander überböten.“

 

Hören wir noch in Franz Richters eigener Sprache einige seiner Gedanken – dem Buch „Bruchwerk“, Ende 2005, entnommen, das wie eine Auferstehung in Lebenszeit wirkt – und uns nun unversehens zum Abschiedsgeschenk geworden ist:

 

Sanftmut ist die langmütige Hinnahme, die oft mehr bedeutet als Hingabe.“

 

Man hat schon einiges erreicht, wenn man nicht versagt, sondern scheitert. Der Versager kommt mit sich selber nicht zurande. Vom Scheiternden aber hat man den Eindruck, er ginge im Vollbesitz seiner beachtlichen Möglichkeiten am Unmöglichen zugrunde.“

 

Die G`schaftlhuberei des Sterbens jahrelang geübt. Nun geht es an die praktische Ausübung, an das Voll-Bringen…aus dem Vollen ins Unendliche einbringen.“

 

Wesentliche Menschheitsfragen sind unbeantwortbar. Da hilft nur eines: sie zu erübrigen. Worte bringen das nicht zustande. Es geschieht durch Wohltaten und Liebe.“

 

Er hatte keinen Glauben, aber er glaubte an den Glauben, der so übergreifend und alldurchströmend ist, dass niemand seiner habhaft werden kann.“

 

Sokrates und Christus, beide sterben für ihren Glauben. Sokrates für die Vereinbarkeit von Gesetz und Individualismus. Christus für Gnade und Erbarmen. Beide sind Sieger. Beide haben die Welt in der Richtung verändert, für die sie sich geopfert haben. Ihr Opfer wurde angenommen.“

 

Als Bildhauer verhaut man den kostbaren Marmor, als Schwätzer verhaut man sich selber. Man muss mit der Sprache umgehen, als wäre sie Granit.“

 

Wenn man als Jahrgang zwanzig den Krieg überlebt hat, kann man sich die Melancholie des „Hätt`ich doch, wär` ich doch…“ ersparen. Für einen solchen ausgelaugten Rückstand der Schicksalspresse erhebt sich nicht die Frage nach dem Selbst. Er fragt sich vielmehr, was er mit dem Menschen, der unter seinem Namen herumläuft, überhaupt noch zu tun hat.“

 

Das Privileg des Altgewordenseins, wenn auch beeinträchtigt durch Krankheit und Schwund der Leistungsfähigkeit, gönnt dir ein noch nie Dagewesenes. Entflochten aus den Zwängen des Wünschens und Handelns, nähert sich das Leben einem musikalischen Zustand. Da werden auseinander liegende Ereignisse und Gefühle gleichzeitig vernehmbar, eine Art von Synchronizität und Polyphonie eines inneren Orgelspiels…“

 

Das Blatt der Pflanze ist zugleich ihre Lunge, ihr Auge, ihre Zunge, die das Licht aufleckt. Dieser Leib eines Lichtgeschöpfes ist es, der alle dunklen Leibeshöhlen der Welt ernährt.“

 

Ist es möglich, hinter dem Rücken der Zeit einen Zipfel Zeitlosigkeit zu erwischen? Mit der Wiederholung, der Reprise haben wir den Trick herausbekommen, die Zeit ein klein wenig anzuhalten. Die Zeitkunst der Musik macht es möglich, mehrfach in ein und dieselbe Woge einer Melodie zu steigen.“

 

Das waren einige Proben aus dem kleingedruckten 168-Seiten-Buch des 85-jährigen.

Gedichte dürfen wir anschließend hören.

 

 

Am 6.12.1992 schrieb mir Franz Richter im Begleitbrief zu seinem eben erschienenen Lyrikband „Lichtecho“: „Wen erreicht schon ein solches Bändchen wie ‚Lichtecho‘? Mit welchem Recht entzieht man sich bei so geringer Breitenwirkung mit einem solchen Tun der entsetzlichen, auch geistigen Notlage, wenn ihr auf diese Weise nicht zu begegnen ist?“ – Etwas Edleres habe ich noch nicht gelesen! Hier zweifelte ein Dichter an der Berechtigung seines eigenen vollen Einsatzes, statt die Mitwelt ob ihrer Verbohrtheit zünftig zu verdammen! Nur aus solcher Gesinnung, aus solcher Demut wird jemals die „Notlage“ durchschaut und überwunden. Mit nichts sonst.

 

Ich bin hier vorgekommen“ lautete die eingangs erwähnte Richtersche Zuversicht. Dieser getroste Satz – in die Vorzukunft gestellt – möge für uns alle gelten. Franz Richter hat ihn erfüllt. Übererfüllt.

 

Liebe Anwesende! Diese Stunde ist für lange Zeit, für Jahre, Jahrzehnte, vielleicht für immer, die letzte, in der Franz Richters Name und Gesicht, Franz Richters Leistung und Wirkung, sein Welt und Leben tragendes, gestaltendes Wesen, seine Vorbildlichkeit und Liebenswürdigkeit ausgesprochen und gesehen werden. Wahrscheinlich wird er so persönlich „hier nie mehr vorkommen“. Er hat sich wissentlich und bis zuletzt ringend eingereiht in den großen allgemeinen Zug aller durch die Vergänglichkeit in die Vergangenheit. Aber angesichts des nun vollendeten Erdenwegs Franz Richters wird klar, woher das Ahnen und die Gedankenwelt von Unsterblichkeit und Ewigem Leben kommen: Die Werte, die er nicht nur erfasste und liebte, sondern denen er wirklich diente – ja, die er erschuf! – sind zugleich zeitgebunden, in Zeit verstrickt, und doch auch außerhalb ihrer, jenseits des Vergehens, sind fortzeugender Stoff des stets Werdenden, Wirkenden, Seienden. Es ist also kein Wagnis in dieser Gewissheit zu sagen: Franz Richter hat ein Ewiges Leben gelebt:Im rastlosen Erfassen und Bannen des Wirkenden in der Wirklichkeit. Er hat für sich und für uns ein Ewiges Leben gelebt.

 

Der tausendfache, heiße Dank vieler, die jetzt seiner gedenken, unterfange den Frieden, in dem nun ruhen möge.