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Elisabeth Hauers Paradies

Lesezeit: ungefähr 4 Minuten.

Meine früheste Erinnerung an Elisabeth Hauer führt mich in die Redaktionsstube von „Literatur und Kritik“, damals beim Palais Palffy, wo sie gemeinsam mit Jeannie Ebner dieses bedeutende Periodikum führte. Die beiden Damen hatten 1978 einen Vorabdruck aus meinem Roman “Der Kasuar“ beschlossen und bestätigten mir, dass dies ein „wichtiges Buch“ sei. Damit hatten sie mir Neuanfänger geholfen. Und ich konnte bereits damals Elisabeth Hauers wissensreiche Umsicht und stille Genauigkeit bewundern. Bald darauf veröffentlichten wir im gleichen Verlag. 1984 erschien ihr Roman „Ein halbes Jahr, ein ganzes Leben“ bei Styria; 1986 der Roman „Sommer wie Porzellan“, 1989 der Roman „Fallwind“, 1992 der Roman „Die Bogenbrücke“. Und 2000 in der Literaturedition Niederösterreich „Die erste Stufe der Demut“. Ferner erschienen Lyrikbände „Verlassene Felder“, „Damals der Sommer am Fluß“ – und damals auch schon Erzählungen „Ein anderer Frühling“, 1995.- Anlässlich ihres letzten Romans, des wahrhaft großen Prosawerks „Die erste Stufe der Demut“ durfte ich als tief beeindruckter Leser aussprechen: ‚Die stummen Arbeitsverrichtungen, die Gebäude und Räume, die Waldviertler Landschaft, die Jahreszeiten, die Eheleute, die ehelichen Stimmungen, die Speisen, die Kleidung, die ständig würgende Armut, die quälende Kindheit, die Klosterleute, die religiösen Erwägungen und Zweifel, die kulturell-wirtschaftlichen Großprojekte des Abtes, die verbreitete Kleinkriminalität, der allgegenwärtige, über vorauseilende Gerüchte seelenbrechende Kriegshorror, und überhaupt die ganze drückende Unerklärlichkeit der Welt – das alles in genau geschauten und gefühlten Menschenbildern ebenso erhellend wie erschütternd mit großer Prosa dargestellt, ergibt Elisabeth Hauers Roman: Er strömt als dichte, starke, Außen- und Innenleben stetig entrollende Erzählung durch das 18. Jahrhundert Mitteleuropas. Elisabeth Hauers Demut besteht darin, daß sie hinter ihre Aufgabe zurücktritt, daß sie sich voll in ihren großen Stoff versenkt und ebenso kenntnisreich wie behutsam den Einblick in eine Welt erstehen läßt, der anders nicht zu gewinnen ist und der für unser heutiges Weltverständnis und Lebensgefühl wirklich unerläßlich ist, sofern wir ein wirklich qualifiziertes Dasein führen wollen.’

Ihre Großleistung für die historisch geprägte niederösterreichische Identität, für die Imagination unser aller generationentiefer Herkunft, für das Bewußtsein von Lebenskampf und Bewährung unserer Ahnen ist anerkannt worden: Elisabeth Hauer empfing das Goldene Ehrenzeichen Niederösterreichs.

Nun erscheinen – einige Jahre nach dem letzten Gedichtband – 17 Erzählungen. Mit der Erfahrung solcher schriftstellerischer Bewährung entwickelt die Erzählerin ihre ganz eigene Weise, Innenwelt zu entfalten: In verhaltener, meisterhaft langsamer, zugleich spannend aufmerksamer lupenreiner Schau schafft sie die Wirklichkeiten, das Wirksamwerden im Schicksal ihrer Gestalten. Wir selbst könnten jede davon sein!

Wie das Zurücknehmen der Überhöhung des Mutterbilds der Tochter weh tut (Die Enthüllung der Paradiese).- Wie der Anblick einer in die Ecke des Kinderspielplatzes gekrümmten, verzweifelten Frau unvermutet zum Vorzeichen des eigenen Ergehens wird (Ich weiß, es hat geregnet).- Wie das entbundene Denken im Aufwachzimmer das blanke Elend der misslungenen Ehe bloßlegt (Die Nacht ist hell und dunkel zugleich).- Wie eindrucksvoll herb Leben und Ehe eines hannoveranischen Tischlers und einer tagebuchführenden Wiener Haushälterin im 19. Jahrhundert verliefen: ein hoch verdichteter Epochenroman (Eine Ehe Melle-Wien).- Wie die alte Ansichtskarte eines Meeresstrandes ein stumm großes Frauenschicksal aufweist (Die Ansichtskarte).- Wie das Vermächtnis einer Mutter, drei ältere Brüder sollen sich um den jüngsten vierten kümmern, dessen Leben scheitern lässt (Der vierte Bruder).- Wie drei Erfrierungstote auf drei Lebensunglücke schließen lassen (Der kalte Wind).- Wie das zufällige Gespräch mit der einsamen Bergwanderin deren inneres Verbundensein mit ihrem verstorbenen Gatten zeigt (Die Zuwendung).- Wie zwei Schwestern lebenslänglich auseinanderdriften (Das rote und das blaue Kleid).- Wie eine zunächst oberflächliche Ehekrise zur entscheidenden Einsicht führt (Umweg ins Alltägliche).- Wie die 70 Jahre von 1869 bis 1939 eine weit verzweigte edle Familie zermalmen: ein zweiter authentisch spannender dichter Epochenroman (Zoe hat nicht geheiratet).- Wie der Apfelbaum zum Gleichnis für Partnerschaftsbedrohung und zum Symbol der Rettung wird, „ihre Gefühle für ihn waren weit weg“ (Die Unruhe vor der Müdigkeit).- Wie die Ungeheuerlichkeit 1938 durch die Vernichtung eines jüdisch-christlichen Ehepaars samt seinen beiden Hunden lähmend augenfällig wird (Ein Paar mit Hund, Wien 1938).- Wie das Kindheitstrauma einer einsamen Waldnacht eine Frau lebenslang prägt (Das Kind im dunklen Wald).- Wie überwucherte Statuen und Treppen im Park einer Schlossruine Bewusstseinsabläufe zwischen Leben und Tod auslösen (Auf dem Weg zur vergessenen Treppe).

Wenn ich das bisherige literarische Werk Elisabeth Hauers betrachte, empfinde ich dieselbe Ehrfurcht wie vor der redlichen stillen Arbeit des sorgfältigen Bauernberufs: Ackern, säen, eggen, jäten, warten und hüten, immer an seinem Ort ausharren, dem Herstellen unverzichtbarer Lebensmittel verpflichtet, schließlich Ernten. Auf den Feldern Elisabeth Hauers heißt dieses Lebensmittel Dichtung, Umwandlung, Einwandlung der Schicksale in jene Aufmerksamkeit, die das Menschsein begründet. Ihr feinsinniges, sinngebendes Paradies wird so für uns enthüllt.

Matthias Mander

p.s. Ich beschwöre alle Berufenen, mitzuwirken, den vergriffenen Roman ”Die erste Stufe der Demut” neu aufzulegen. Eine längere Würdigung dieses Buchs ist abrufbar (Mander (at) Mandl.com)