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Elisabeth Hauer – Erzählungen

Lesezeit: ungefähr 4 Minuten.

Über den 2001 erschienenen großen Roman Elisabeth Hauers „Die erste Stufe der Demut“ war schon zu sagen: Es sind ja nicht die Exzesse, die einer dichterischen Beleuchtung und Einwandlung bedürfen, sondern es sind die allgemeinen, alle Leute betreffenden Lebensbedingungen und – Entwicklungen. Die Palette der Literatur – von der ernsthaften, umfassenden, tiefgehenden Betrachtung der Schicksale bis zu routinierter journalistischer rascher Proklamation – bietet dem Schreibenden viele Farbmischungen und Pinsel- bzw. Federhärten an, um den Stoff seiner Denk- und Lebenszustösse zu bewältigen. An der Art seiner Material- und Werkzeugwahl lässt sich bereits des jeweiligen Autors Selbst- und Weltverständnis, sein personaler Rang erkennen. Lebensfähigkeit, Lebensfreude werden gewonnen durch Wissen, Durchblick, Zusammenschau, Vertrauensbesitz, einen Vorrat von Erlebnissen sowie die Gefühls-, Gedanken- und Wortschätze dazu. Viele Disziplinen, Lehrer, Freunde führen zu solcher Aussichtswarte. Aber am meisten tragen die Dichter bei. Die größte Wohltat ist die Wahrheit.

 

Elisabeth Hauer ist still und gescheit und fleißig. Ja, sie ist gefangen in Bindungen, Pflichten. Sie pflegt Werte, erfüllt Aufgaben, die die Welt zusammenhalten, die den Menschen helfen das Leben zu bestehen. Hauers Mut, in einen Romantitel das Wort „Demut“ zu setzen, lässt tief blicken in die eigenständige, unabhängige Kraft dieser Autorenpersönlichkeit. In Dutzenden packend und herzergreifend entfalteten Schicksalen zeigte Elisabeth Hauer in jenem Roman die Daseinsbewältigung des 18. Jahrhunderts in und um das niederösterreichische Stift Altenburg – eine jedem Leser unvergessliche Wirklichkeitserschließung. (Möge das hiermit einzubegleitende Erscheinen von 15 neuen Erzählungen der Autorin auch zu einer Neuauflage jenes wichtigen Romans führen!)

 

Die jetzt vorliegenden 15 Prosastücke weisen ähnliche Vorzüge auf: Diese Texte sind einerseits genau, andererseits großzügig. Sekunden, aber auch Jahre werden zu Minuten, Leseminuten, je nach der Zuwendung der Erzählerin. Wovon hängt diese Tiefenschürfung ab? Vom abgründigen Widerhall des jeweiligen Erzählschritts, von der Bedeutung des Geschichtsfortgangs im Augenblick. Im Wort Bedeutung steckt „deuten“. Die sorgfältige Dichterin deutet. Dies aber nach keiner festgefügten Doktrin: Weder Konfession noch Klassenkampf, weder Ideologie noch angemaßte Überwertigkeit lenken ihren Blick. Alle ihre Gestalten und Themen sind privat, persönlich, menschlich an der Grenze des schutzlosen, nackten, offen pulsierenden, empfindlichen, geheimnisvollen Lebens, an seiner unüberschreitbaren, ja unberührbaren Grenze zwischen gebotener Selbstbestimmung und schöpferischer Ratlosigkeit.

Elisabeth Hauer psychologisiert nicht, doziert nicht, dramatisiert nicht übermütig. Sie streift mit ihren zarten Blicken und behutsamen Händen über die inneren Vorgänge ihrer Personen, bringt diese unmittelbar faktisch-poetisch zur Sprache. So erinnert sie uns allzu Gefestigte, Verhärtete an jene Dimension des Daseins, die wir wahrlich nicht missachten dürfen, wenn wir redlich sein, gerecht leben wollen.

Was mich anfänglich nicht sogleich ansprang, Ansagen, bei denen ich mich zunächst nirgends hinaussehen konnte, die mich vermeintlich nicht betreffenden Stoffe gerieten unversehens zu Bauteilen unvergesslicher Weltwahrnehmung, zu neuen bleibenden Nischen in der Erinnerungshalle. Hut ab vor einer solchen Erzählerin:

 

 

Wie das Zurücknehmen der Überhöhung des Mutterbilds der Tochter weh tut (Die Enthüllung der Paradiese).- Wie der Anblick einer in die Ecke des Kinderspielplatzes gekrümmten, verzweifelten Greisin unvermutet zum Vorzeichen des eigenen Ergehens wird (Ich weiß, es hat geregnet).- Wie das entbundene Denken im Aufwachzimmer das blanke Elend der misslungenen Ehe bloßlegt (Die Nacht ist hell und dunkel zugleich).- Wie eindrucksvoll herb Leben und Ehe eines hannoveranischen Tischlers und einer tagebuchführenden Wiener Haushälterin im 19. Jahrhundert verliefen: ein hoch verdichteter Epochenroman (Eine Ehe Melle-Wien).- Wie die alte Ansichtskarte eines Meeresstrandes ein stumm großes Frauenschicksal aufweist (Die Ansichtskarte).- Wie das Vermächtnis einer Mutter, drei ältere Brüder sollen sich um den jüngsten vierten kümmern, dessen Leben scheitern lässt (Der vierte Bruder).- Wie drei Erfrierungstote auf drei Lebensunglücke schließen lassen (Der kalte Wind).- Wie das zufällige Gespräch mit der einsamen Bergwanderin deren inneres Verbundensein mit ihrem verstorbenen Gatten zeigt (Die Zuwendung).- Wie zwei Schwestern lebenslänglich auseinanderdriften (Das rote und das blaue Kleid).- Wie eine zunächst oberflächliche Ehekrise zur entscheidenden Einsicht führt (Umweg ins Alltägliche).- Wie die 70 Jahre von 1869 bis 1939 eine weit verzweigte edle Familie zermalmen: ein zweiter authentisch spannender dichter Epochenroman (Zoe hat nicht geheiratet).- Wie der Apfelbaum zum Gleichnis für Partnerschaftsbedrohung und zum Symbol der Rettung wird, „ihre Gefühle für ihn waren weit weg“ (Die Unruhe vor der Müdigkeit).- Wie die Ungeheuerlichkeit 1938 durch die Vernichtung eines jüdisch-christlichen Ehepaars samt seinen beiden Hunden lähmend augenfällig wird (Ein Paar mit Hund, Wien 1938).- Wie das Kindheitstrauma einer einsamen Waldnacht eine Frau lebenslang prägt (Das Kind im dunklen Wald).- Wie überwucherte Statuen und Treppen im Park einer Schlossruine Bewusstseinsabläufe zwischen Leben und Tod auslösen (Auf dem Weg zur vergessenen Treppe).

 

Sprachliche Aquarelle feinster Linien und Schattierungen, der Charme authentischer Dokumente, sorgfältige Wortwahl in ruhig kühlem Impressionismus, undramatische Tragödien, rasche Wendungen vom Banalen ins Fatale, ein geläuterter, somit läuternder Realismus sowie die interessante, aufschlussreiche, also hilfreiche Sichtweise der ebenso ernsten wie milden Beobachterin und Erzählerin werden geboten.

 

In einer der Geschichten fällt das Wort von der „vergeblichen Gestik“. Was für ein Synonym für unsere endlosen Bewährungsversuche! Diese Einsicht, dieser Halbsatz, diese Demut sind der bleibende Gewinn aus Elisabeths Hauers neuer Sammlung.