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Edith Haider: Prägungen – Kurzgeschichten

Lesezeit: cirka 3 Minuten.

LITERATUREDITION NIEDERÖSTERREICH

St. Pölten  ISBN 978-3-902717-22-1

Für jemanden wie mich, dessen Heißhunger nach Wirklichkeitserfassung ihn zu immer komplexeren Abstraktionen treibt, gewährt das Buch Edith Haiders eine heilsame Lehrstunde. Die sechs Kurzgeschichten zeigen in feinster Entfaltung und packendem Naturalismus sechs Frauenunglücke, wie sie zwar tagtäglich das Leben gebiert, aber in solcher traurigen Drastik kaum eine textliche Schilderung zeigt:

Roswitha, gutmütige rundliche Reinigungskraft, wird von zwei Schuften um Ersparnisse und alle Hoffnungen betrogen, stürzt sich aus dem Fenster.- Inge, jahrelang von einem narzisstischen Monster missbraucht und missachtet, erliegt – wieder einmal von ihm am Treffpunkt sitzen gelassen – den Verführungskünsten eines reichen Alten, versinkt deshalb in Selbstvorwürfen. – Anita erlebt auf dem Balkon das Sterben eines Vogels und zelebriert dessen Aufbahrung in  der Wohnung als Ausgleich für die würgende Gefühllosigkeit ihrer Ehe.- Theres zieht mit ihrem unehelichen Kind in die Wohnung ihrer Schwester Marie mit Neffen Fips ein und entwickelt sich zu einem bösen Haustyrannen, unterschlägt ihr sogar die Feldpostbriefe ihres im Krieg kämpfenden Mannes: Denn genau diesen hätte Theres für sich begehrt. – Johanna pflegt aus Pietät eine Bekannte ihrer verstorbenen Mutter. Diese Frau Gerber entwickelt viele mühsam zu erfüllende Ansprüche, die sie mit Erbversprechungen kaschiert, was sich letztlich auf einen geschmacklosen Ring beschränkt. – Eine Autorin wartet im Café angstvoll auf die Begegnung mit einem Redakteur, der ihr einen Zeitungsartikel widmen möchte.

Alle diese skizzierten Inhalte sind voll genauesten Beobachtungen, Abwägungen, Einwertungen gründlich erzählt. Und mit treffenden Wendungen: „Ein Grablicht … auf den mit Vergänglichkeit bedeckten Hügel gelegt“ (S. 28) …locker, nur dem Augenblick verhaftet, so wie er ihr dies nahegelegt hatte … die Finger im hellbraunen Haar verwühlt, geradeaus an ihr vorbeiblickend.“ (S. 33) „Alle Spannung, alle erlittene Zurückweisung … fielen wie Brotteig vom Osterschinken … (S. 65) „Würde sie jemals den Sinn ihrer sehnsuchtsvollen Lebensreise erfahren, je wissen, was der Schmerz bedeutete, der beinahe immer wie ein feiner dunkler Schatten auf ihr lag?“(S. 75) „… die Tage, in denen Tante Theres wie ein dunkler Schatten über seinem Leben geschwebt war, hatten sich in ihm angesiedelt und ihn wie das Mistelgezweig durchsetzt, das unten im Graben in den Weiden nistete.“ (S. 83)

Und auf Seite 103 allerdings findet sich ein ganz besonderes Bild, das nicht nur sozusagen eine universell existentielle Deutung bietet, sondern das richtige Verhalten hierzu schenkt: Wegen des so prekär erworbenen schmerzenden Rings kann Johanna nur mit gewölbten Händen klatschen: „Da er nicht für ihre Hand angefertigt war, pflegte er auf ihrem schmalen Ringfinger haltlos hin und her zu kippen, so daß sie ihn zumeist auf den Mittelfinger steckte; aber auch dort noch empfand sie ihn fehl am Platz. Wenn sie im Theater applaudierte, drehte sie den Stein oft nach innen, wo sie ihn besser unter Kontrolle hatte und ihn am Verrutschen hindern konnte. Aber selbst da schlug er unangenehm auf der linken Handfläche auf, so daß sie gezwungen war, mit gewölbten Handflächen zu klatschen.“ Unvergesslich! In meiner Privatwissenschaft heißt diese Findung: Megametapher, weil sie singulär bildhaft die ganze condition  humaine bloßlegt; heilsam, weil trotzige Ungeduld durch klärendes Erkennen, ja Einstimmen besänftigend.

Als ich den Buchtitel las, war ich besorgt wegen des ihm innewohnenden Anspruchs. Nun, nach der Lektüre dieser „Prägungen“ verspüre ich ihn als erfüllt. Ich applaudiere Frau Edith Haider fest zu diesem Werk mit flach durchgestreckten Händen.

 

Matthias Mander