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Die Demut der Elisabeth Hauer

Lesezeit: cirka 9 Minuten.

Zum Roman „Die erste Stufe der Demut“ von Elisabeth Hauer, Niederösterreich Literatur-Edition, ISBN 3-90111748-2, Oktober 2000.

Held dieses Romans ist der als kaum überlebensfähiges Kind 1759 geborene erste Sohn eines „Halblehners und Untertans des Stiftes Altenburg“, Johann Palt, der den Namen seines Großvaters mütterlicherseits, Mathias, erhält und sechsjährig von seinem im Kloster lebenden Onkel, dem Abt, ins Stift gebracht und erzogen, aber mit neun Jahren – nach dessen Tod – wieder zu seinem inzwischen verwitweten Vater zurückgestellt wird. Die jetzt dort herrschende Frau weist ihn ab, er wird Schafhirtsgehilfe für das Stift, setzt sich als wilder Waldsiedler mit einer Geliebten in Gegensatz zu aller Ordnung, verliert die Frau an einen Gauner, wird schließlich von einer eigensinnigen ältlichen reichen Hoferbin trotzig geheiratet, die sich Mathias Palt in den Kopf gesetzt hatte. Der ebenso tüchtige wie eigensinnige nunmehrige Bauer Mathias Palt wird schließlich sogar Dorfrichter, verliert diese Stellung aber durch Intrigen. Seine aus klösterlichen, prekär familiären, revoltierenden, bäuerlichen, dorfgemeinschaftlichen Bewußtseinssplittern und -strängen vernetzte kampf- und leidensreiche Entwicklung läßt ihn schließlich an die erste Stufe der Demut gelangen.

Die stummen Arbeitsverrichtungen, die Gebäude und Räume, die Waldviertler Landschaft, die Jahreszeiten, die Eheleute, die ehelichen Stimmungen, die Speisen, die Kleidung, die ständig würgende Armut, die quälende Kindheit, die Klosterleute, die religiösen Erwägungen und Zweifel, die kulturell- wirtschaftlichen Großprojekte des Abtes, die verbreitete Kleinkriminalität, der allgegenwärtige, über vorauseilende Gerüchte seelenbrechende Kriegshorror, und überhaupt die ganze drückende Unerklärlichkeit der Welt – das alles in genau geschauten und gefühlten Menschenbildern ebenso erhellend wie erschütternd mit großer Prosa dargestellt, ergibt Elisabeth Hauers Roman „Die erste Stufe der Demut“. Er verdient seine Gattungsbezeichnung voll: Er ist keine Novelle, kein Essay, kein Drama, er kulminiert nicht, sondern er strömt als dichte, starke, Außen- und Innenleben stetig entrollende Erzählung durch das 18. Jahrhundert Mitteleuropas.

Der Verfasser dieser Rezension entstammt einer Bauernfamilie in südsteirischer Murlandschaft. Seinem vor über hundert Jahren dort geborenen Vater verdankt er Überlieferungen bäuerlicher Überlebensanstrengung, die mit der Atmosphäre von Hauers großer Dichtung übereinstimmen: Körperliche und geistige Entbehrung, ständige Angst vor Krankheit und Tod, äußerste Sparsamkeit, Verwicklungen zwischen Bauersleuten, Bauernkindern, Mägden, Knechten, Gesellen, Wandersleuten, Pfarre sowie dem langen Arm ferner Behörden, deren irrationaler Politik man völlig ausgeliefert ist… Mit wie anderen Augen kann man sein heutiges Leben im 21. Jahrhundert betrachten und einwerten, wenn man tief betroffen – nicht etwa nur ‚informiert‘ – das Werk „Die erste Stufe der Demut“, beschenkt mit erschütternden, bis ins Heute heraufgreifenden Wirklichkeiten, aus der Hand legt.

 

Dieser große, geschichtlich genaue Roman spielt im niederösterreichischen  Ort und Stift Altenburg, Waldviertel, zur Zeit 1759 bis 1801 – Maria Theresia, Josef II., Franzosenkriege – und schenkt uns anders nicht zu gewinnende Einblicke in die Welt, das Leben und Bewußtsein unserer Vorfahren.

 

Wozu das gut ist? Wir erwerben Wissen, Achtung, Mitleid, das ist

Lebenskompetenz, durch epochale Einsichten. Der interessante Romantitel erinnert an das „größte Weltgedicht“ des Dante Alighieri – 1207 Florenz bis 1321 Ravenna – „La Divina Comedia“, in der er den „Berg der Läuterung“ schildert, mit 7 Stufen für 7 Siege: Über Sinnenlust, Gaumenlust, Geiz und Verschwendung, Trägheit, Zorn, Trug, Hochmut. Selbstverständlich trug und trägt die Spiritualität und das Regulativ des Heiligen Benedikt – 480 Nursia bis nach 542 Montecassino – zu solcher Weltrezeption entscheidend bei, wenn diese sich in der Mitte und im Dunstkreis eines Benediktinerklosters vollzieht.

25.6.1144: Gründung des Klosters Altenburg, es wird durch Bischof Reginbert von Passau bestätigt. Um 1177: Entstehung des Pastorales, Hirtenstabs, von Altenburg, einer sizilianischen Arbeit. Ostern 1430: 10.000 Hussiten fallen ins Waldviertel ein, zerstören das Kloster Altenburg. 1652: Abt Benedikt Leisser wird mit Gegenreformation beauftragt. – Der wichtigste Barockmaler Paul Troger, 1698-1762, schuf die Kuppelausmalung der Altenburger Stiftkirche. Malerische Großleistung nach einem Konzept von Abt Placidus Much. 1742: Bau der Bibliothek des Stiftes Altenburg mit Kuppelfresken von Paul Troger.- Am 17.3.1938: Überfallskommando der SA, Vertreibung des Konvents… Während der Nazizeit Umsiedlunglager, Kriegslazarett.

 

Ehe ich nun aushole, Elisabeth Hauers letzten von fünf Romanen, „Die erste Stufe der Demut“, zu rühmen, erkläre ich meinen Maßstab für Lebenswert, Lebensfreude, Lebensfähigkeit: Wissen, Überblick, Durchblick, Zusammenschau, Vertrauensbesitz, freier gekonnten Umgang mit Regionen, Epochen, Themen, Biographien, das alles durch untrügliche, authentische eigene Wahrnehmungen, Rückschlüsse, Erkenntnisse. Freier Besitz eines Vorrats von Erlebnissen und die Gefühls-, Gedanken- und Wörterschätze hiezu, das ist ein reiches, durch und durch glückliches Leben. Das Gegenteil ist eine dumme, unfreie Rumpfexistenz ohne Wahrnehmungs- und Verknüpfungsfähigkeit. Viele Disziplinen, Lehrer, Einzelpersonen, Medien haben mir auf dem langen Weg zur Aussichtswarte geholfen, die ich jetzt bewohnen darf, innerhalb derer ich heute umherklettern, auf- und absteigen, die Himmelsrichtungen wechseln, Ausschau halten, die Welt anschauen, Erkenntnisse anwenden, Wohltaten geben und nehmen kann, zwischendurch auch ausruhen. Viele haben mich bis hierher geführt – aber am meisten beigetragen haben die Dichter.

Elisabeth Hauer ist eine Stille im Land. Still und gescheit und tief und fleißig. Ja, sie ist gefangen in Bindungen, Verbundenheiten, Verbindlichkeiten, Pflichten. Sie lebt und pflegt Werte, erfüllt Aufgaben, die die Welt zusammenhalten, die den Menschen das Leben bestehen helfen; die die Menschen einander nicht zur Last, zu Wölfen machen, sondern zu Hilfen und Freunden. Elisabeth Hauer wirkt als wohltätige Weltmacht, nicht als dämonische Gegenweltkraft. Was sie lebt und denkt und schreibt ist echt, menschlich, unvergeßlich, wahr, zugleich prägend, bildend, wertstiftend. Sie schafft und repräsentiert und verteidigt und erfüllt das humanum.

 

Von den rund 35 Stiften, die im Raum des heutigen Österreich rund um das Jahr 1000 nach Christus in der sogenannten Kolonisationszeit entstanden sind, muß man den Gedankensprung zu den ersten Städtegründungen der Menschheit vor 10.000 Jahren wagen, um die in vollem Wortsinn lebenbegründende Wichtigkeit zu würdigen: Die ersten  Städte – Uruk, Larsa, Eridu, Jericho, Ninive, Babylon usw. – waren großartige „Überlebensmaschinen“, indem sie mitten im unwirtlichen Umland riesige Schutzbauwerke darstellten, Bewässerungsysteme enthielten, Logistikzentren in ihren Tempeln betrieben, Lagerhäuser sowie und vor allem eine Arbeitsordnung, die jedem seinen Platz zuwies, ihm dafür Nahrung, Geborgenheit, Daseinssinn bot. Es ist kein Zufall daß in den altorientalischen Sprachen der Name ‚Gott‘ und der Name ‚Stadt‘ ident waren. Diese allerersten Bewährungssysteme menschlicher Dispositionsfähigkeit, die ihrerseits wieder auf Systemtranszendenz zurückgeht – aus biologischen Systemen wurden reflektorische Supersysteme – kannten noch nicht unsere heutige Disziplinenteilung, waren daher intelligenter und kreativer als der heutige akademische Apparat. Theologie, Ökonomie, Technologie, Kunst, Politik waren ein nahtloses Amalgam von Erkenntnis- und Entscheidungsquellen, aus denen die grandiosen Durchbrüche unserer Gattung vom passiven fatum zum selbstbestimmten, selbstinstallierten factum gespeist wurden.

 

Zwischen der Funkionsweise der ersten Städte und jener der Klostergründungen in der österreichischen Kolonisationszeit um das Jahr 1000 nach Christus herrschen Analogien: Nur mit religiöser Motivation, klösterlicher Disziplin, sozialer Bergung und ökonomischer Präzision konnte aus einer unerschlossenen Urlandschaft mit nur halbjährlicher Vegetationszeit, dagegen ein Halbjahr lähmender Winterzeit, soviel Mehrwert hervorgebracht werden, daß allmählich jene Kultivierung des Landes möglich wurde, die später Grundlage einer Weltmacht, heute noch Basis der  Wohlstandszivilisation wurde.

 

Die Palette der Literatur – von der ernsthaften, umfassenden tiefgehenden Betrachtung der Schicksale bis zu routinierter journalistischer rascher Impression – bietet dem Schreibenden viele Farbmischungen und Pinsel- bzw. Federhärten an, um den Stoff seiner Denk- und Lebenszustöße zu bewältigen. An der Art seiner Material- und Werkzeugwahl läßt sich bereits des jeweiligen Autors Selbst- und Weltverständnis, Sichtperspektive, personaler Rang erkennen: seriöse selbstlose Zuneigung für das Milieu und die Figuren seines Themas oder plakativ egozentrische Publikationsattitüde. Selbstverständlich können beide Ansätze für den Leser reizvoll sein, dem letzteren neigt das Tagesinterersse zu. Zugegeben: Die Bedienung eines Marktes für aktuelle Katastrophenbeobachtung, z.B. Flugzeugabsturz, Gletscherbahnbrand – kann literarisch legitim sein, doch, wie allgemein bekannt, ist der Markt keine Stellgröße für das Wahre und Gute. Ich entschuldige mich für die Provokation dieser Wortwahl, ich hätte auch sagen können, für „die ultimative existentielle Bewährung“. Es sind ja nicht die Exzesse, die einer dichterischen Beleuchtung und Einwandlung bedürfen, sondern es sind die allgemeinen, alle Leute betreffenden Lebensbedingungen und -entwicklungen. Irritierende Uninspiriertheit verrät sich in affektierter Kommentierung von technischen Katastrophen – wodurch ja nichts den Alltag Bedrängendes geklärt, erhellt, bewertet wird.

 

Deshalb muß auch ganzheitlich und langfristig wichtige, gefühlte, nicht gemachte Literatur gewürdigt und verteidigt werden. Deshalb empfehle ich Elisabeth Hauers „Erste Stufe der Demut“.

Elisabeth Hauers Demut besteht nun eben gerade darin, daß sie erstens auf plakativ-polemische Aktualität verzichtet und zweitens hinter ihre Aufgabe zurücktritt, daß sie sich voll in ihren großen Stoff versenkt und ebenso kenntnisreich wie behutsam den Einblick in eine Welt erstehen läßt, der anders nicht zu gewinnen ist und der für unser heutiges Weltverständnis und Lebensgefühl wirklich unerläßlich ist, sofern wir ein wirklich qualifiziertes Dasein führen wollen. Und damit wirkt sie erst recht an der Schaffung gegenwärtig wünschenwerter Lebensbedingungen mit – das ist nämlich der genuine Beitrag der Kunst.

Hauers letzter Roman führt uns mit durchaus avancierter Prosa in Bewußtseinsströme, Daseinsbewältigungen des 18. Jahrhunderts in und um Stift Altenburg. Sie erschließt damit das Universum einer Subsistenzverteidigung von landwirtschaftlicher Urproduktion bis zur hochtheologischen Reflexion – aber nicht akademisch steril, sondern in Dutzenden packend und herzergreifend entfalteten lebenswirklichen Schicksalen, befangen, gefangen allein im Vokabular ihrer Epoche. Und gerade in dieser Beschränkung der Autorin liegt die Wucht ihrer Nachricht, die – nach der Lektüre des Romans ist das für jeden heutigen Leser klar – von dann an für ihn unverzichtbar geworden ist. Hauers Mut, in einen Romantitel des Jahres 2001 das Wort ‚Demut‘ zu setzen, läßt tief blicken in die völlig eigenständige, unabhängige Kraft dieser Autorenpersönlichkeit. Gemäß meinen oben offen einbekannten Maßstäben schafft Elisabeth Hauer damit allerbeste Literatur. Nur solche baut und beleuchtet den Weg, in eine empfehlens- und erstrebenswerte Zukunft unserer Gattung.

 

Diese geistige Leistung der demütigen Elisabeth Hauer für die historisch geprägte niederösterreichische – und damit genuin europäische – Identität, für die Imagination unser aller generationentiefer Herkunft, für das Bewußtsein von Lebenskampf und Bewährung unserer Ahnen und damit aber für unseren persönlichen aktuellen kulturellen Rang und menschlichen Wert ist von maßgebenden Menschen und Instanzen erkannt und anerkannt worden!

Bitte lesen Sie diese ebenso packende wie ergreifende, ebenso schöne wie durch und durch wahre Prosa.