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Christl Greller: Im Narrenturm

Lesezeit: cirka 5 Minuten.

Erzählungen 283 S., 21,50 Euro

2014

Edition Roesner ISBN 978-3-902300-83-6

Fürwahr ein ziemlich unvergessliches Buch! Da ist zunächst erstens die pure Textmasse: 283 Seiten Prosa für 23 Titel, ich bin versucht zu sagen Zwischentitel, denn alle diese Schriftsätze bieten eine minuziös treffende Bestandsaufnahme nicht nur genregemäß innerer, sondern auch packender äußerer Wirklichkeiten: Landschaft, Wirtschaft, Gesellschaft einer einsamen Atlantikinsel; Soziotop und Psychogramm eines österreichischen Bauernhofs; das schwüle Stilleben des überwucherten Schrebergartens inmitten einer Siedlung; das Geburtstagsjagdfest eher unbewanderter Betuchter; Krankenhausabläufe in hoher medizinischer Kompetenz; Geschichte der Technik für Zeiterfassungsmaschinen und der Brandlöschtechnik; umfassende Untersuchungen des oberitalienischen Strandlebens; weiters des Kurbadegeschehens; sogar die prekären Lebenslagen hochgebildeter unterbezahlter Wissenschafterinnen und Wissenschafter werden beklemmend durchgezeichnet; slowakisch-österreichische Grenz-Familienverhältnisse (ähnlich dem Romanwerk Zdenka Beckers); komplette Schilderung eines Tontaubenschießwettbewerbs; sowie des Tagesverlaufs in einem großen Einkaufszentrum. Alle diese Sachgebiete sind nicht etwa Kulissen für Reflexionsbezirke, sondern exakt und plastisch erfasst – eine erstaunliche Stärke der Autorin.

Zweitens erstaunt der Erzählband mit einer Fülle eigenwilliger und treffender Wendungen: „Die sehnsüchtigen Schreie der Seevögel über dem unaufhörlichen Schlag der Brandung.“ (S. 13) „Der weite Himmel. Die Sehnsucht zu bleiben. Die Sehnsucht zu fliehen.“ (S. 19) „Ein verendetes Schaf, wollweiß, mit braunrotem Kraut verwickelt, im Tod mit der Erde verfilzt.“ ( S. 31) „Daneben lag ein Fahrrad. Es fiel kein Licht darauf, das dem Metall ein Blinksignal entlockt hätte. So verschwand es in der sich zusammenrottenden Finsternis.“ (S. 32) „…der harte Schritt der Wachmannschaft aus einem der einmündenden Gänge. Überdeutlich durch die Leere, die Stille, auch die Krallen der Hunde auf dem Steinboden.“ (S. 86) „Für jedes Auto gab es heute längere Garantiezeiten als für das menschliche Zusammenleben.“ (S. 129) „In einem Hotel angekommen, prüfte er als Erstes die Fluchtpläne, ging die angegebenen Routen nach… während ihm schlaflose Nachtstunden bereitet wurden durch die langen Gänge, die verwinkelte Bauweise, die vielen zu überwindenden Stockwerke, die unzähligen Zwischentüren, die nur mit elektronischer Codekarte zu öffnen waren. Dazu musste man zuerst herausfinden, mit welcher Seite man sie wie durch den Schlitz ziehen sollte – und das alles in Fluchthetzerei.“ (S. 255)

Drittens nehmen – bis auf eine oder zwei – alle so scharfsichtig entfalteten Geschichten ein bitteres, erschreckendes, zumeist tödliches Ende, das die Lesenden, die soeben zur grandiosen Prosa Vertrauen gefasst hatten, schmerzt, die so erzeugte Betroffenheit kann auch Nachdenken über die durchgehend gewählte Finalstrategie der Erzählerin bewirken. Beispiele: Das so vielfältig durch Installationen gezwängte Wasser eines Thermalbades rächt sich durch Verschlingen der in ihm Heilung suchenden Schwimmer … „Das Wasser war es, das brüllte, er hatte es schon orten können, das Wasser im Schwimmbecken … (es) fange an sich zu wehren, im ganzen Haus sei es dienstverpflichtet, werde in Rohre gepresst, zerteilt, zerkleinert, unter Druck gesetzt, durchgejagt. Einzig im großen Becken die Möglichkeit der Sammlung, die Möglichkeit, wieder ELEMENT zu sein. Wo anders als dort soll sich die Unterdrückung entladen?“ (S. 154/155)  – In der hinreissend durchgemalten Schrebergartenidylle wird die alleinstehende Kaufhausangestellte von Wespen zu Tod gestochen … „Die Sommerwochenenden unter der lähmenden Glut der Sonne dauerten ewig. Ewig. Aus einem der Nachbargärten drang wie von weit ein sonntägiges Platzkonzert herüber.“ (S. 41) „Eine Wespe kroch über Marias Augen, und Maria zuckte zusammen. Die Wespe stach. Maria zuckte nochmals. Zwei Wespen stachen sie sofort in den Hals. Und wie auf ein geheimes Kommando, das sie selbst durch ihr Zucken gegeben hatte, stachen nun alle Wespen zu.“ (S.46) – Ein Tontaubenschütze verübt nach dem Schießbewerb wegen finanzieller Verfehlungen gegen den Schützenverein Selbstmord … „Er müsse ein teureres Gerät besitzen, dann, ja dann schösse er besser. Es folgte ein preisliches Hinaufarbeiten bei Büchsenmacher und Schäfter, der den Schaft in Senkung, Schränkung und vor allem Länge dem Schützen auf den Leib schneiderte, auf den Leib schnitzte.“ (S. 212) – Die mit ihrem beruflich auf eine einsame Hebrideninsel übersiedelte Frau springt von der Steilküste den dort abgestürzten Schafen nach … „Die Nachbarin mit ihren kleinen Schritten, den ewigen wadenlangen Röcken, darüber die Windjacke, der Kopf bekrönt von einer Wollhaube. Der aggressive Schrei der Möwen, riesige grauweiße Flugtiere mit fingerlangen Schnäbeln. Doreen beobachtete, wie sich zwei Möwen auf einem Hausdach zerhackten. Dies war einfach ein gottverlassener Fleck.“ (S. 26) – Ein von Feuerangst getriebener Spinner ertrinkt im nach dem Regen angeschwollenen Bach. „Sein Stiefel rutschte auf den nassen Steinen weg, er stürzte und schlug mit dem Kopf auf. Wahrscheinlich war ihm nicht mehr bewusst, das lehmige Fluten ihn mit sich rissen und verschlangen. (S. 261)  Usw., usf.

Hypnotische Präzision mit starker Wirkung auf das Lesen, freilich verstörend durch den absurden Finalhorror. Herausgefordert von Stilleben und Exzess, Idylle und Inferno, Banalität und Trauma. Packend welthältige Sachkenntnis und panischer Eskapismus erinnern an zwei analoge Maler: Hieronymus Bosch, ca. 1450 – 1516, und Anton Lehmden, * 1929. Beide Meister malen mit feinem Pinselstrich bis ins kleinste Detail ihre scharf beobachtete Weltwirklichkeit vollständig und vollkommen. Ziselierte Landschaften voll Gräsern, Zweigen, Blättern, zwischendurch unaufgeregt ungeheures Geschehen: Scheinbar arglos schlitzen sich zwischen grüne Lianen Höllenszenen von Kriegen und Weltgericht, Folterungen, Martyrien, Erdolchungen. Dieses schmerzende „Programm“ empfinde ich stets als deren Pflichtübung, die grandiosen Bildentwürfe, Bildhintergründe als „Kür“, als deren substanziellen künstlerischen (wahren) Antrieb. Insofern überwölbt die Meisterschaft des Wie die Beklemmung durch das Was. Ähnlich überstrahlt Christl Grellers gekonnte Hochstrahlprosa die so oft von ihr verhängte Schlußwürgung. Wie schön – weil durchaus glaubwürdig – die Rettung des armen Einschleichschläfers im Möbelpalast, dem die aufmerksame Putzfrau nach Entdeckung und längerer Beobachtung überraschend bei sich selbst ein Quartier anbietet: „Ich habe Wohnung. Ich bin Maria“. (S. 102)

Matthias Mander