Annemarie Moser – Hörst du die Nacht?
Lesezeit: ungefähr 3 Minuten.
Lyrik und Stahlmonotypien von Robert Hammerstiel
Literaturedition Niederösterreich 2011
ISBN 978-3-902717-11-5
Im letzten dieser achtzig Texte reklamiert Annemarie Moser – Marie von Ebner-Eschenbachs bekanntes Diktum vom schreibenden Gott, der zuvor ein leidender Hund war, paraphrasierend – das Leiden jedenfalls für sich. Einen Zweiten Weltkrieg später ist (uns) der verehrungswürdige Meliorismus der Eschenbach vergangen. Darum erklärt die heutige Autorin, dass sie „gelitten habe wie ein Hund, steht fest“, aber gottvoll geschrieben zu haben, „kann man bezweifeln“. Jawohl, das wäre auch angesichts heutiger Problemlage unangebracht. Wer Annemarie Moser persönlich kennt, wie ich, weiß, was die ruhige, gewissenhafte, sorgfältige Frau leisten musste bis zu ihrer heutigen Beständigkeit. Ihr an prominenter Stelle des Buchs – als Schlusssatz! – gemachter Hinweis auf Leiden meint allerdings nicht etwa ein persönliches, privates, sondern das schmerzlich liebevoll stellvertretende Mittragen fremder Lasten, die sich tatsächlich – nicht etwa eingebildet – für alle Angesprochenen verringern durch deren wörtliche Fassung zwecks Klären und Austauschen.
Ihren vielen Büchern (z.B. „Spurenlegen“, „Andeutungen eines lebendigen Menschen“, „Das eingeholte Leben“, „Vergitterte Zuflucht“, „Türme“, „Anreden“. – Viktor Frankl sprach von einem „Meisterstück, ebenso mutig wie dankenswert. Ein Werk, das bleibt.“) fügt die junge Siebzigjährige nun mit „hörst du die Nacht“, Literaturedition Niederösterreich 2011, ein bibliophiles Buch aus achtzig Texten und zehn Stahlmonotypien von Robert Hammerstiel an.
Ein ganz ungewöhnliches Werk: Wenn auch ich ein Dichterwort variieren dürfte, sagte ich in Abwandlung von Goethes „Bekenntnissen einer schönen Seele“, Moser zeigt uns „Durchlebtes einer aufmerksamen Seele“, was freilich den Originalsatz nicht nur nicht ausschließt, sondern eher verstärkt, aktualisiert und universalisiert.
Wahrzunehmen ist ein Texttypus zwischen bitterer Lyrik, analytischer Tagebuchprosa, verkappter Minidramatik, tief subjektiv, in für viele Andere kaum noch verfolgbarem, geschweige darstellbarem innerem Erleben. An der Hand dieser Autorin aber kann sich deren Welt- und Selbsterfahrung erweitern, sie genießen die Wiedergabe eines unablässig schürfenden, fragenden, prüfenden, bewertenden Bewusstseinstroms. Die Lektüre erweist sich als zunehmend spannende, fortreißende Arbeit auf einem Schürffeld, auf dem sich viele literarische Diamanten finden, eingestreut in oft unbeachtete, kaum sonst wo mitgeteilte Alltagswahrnehmungen. Aber seit James Joyce wissen wir ja, dass das (vermeintlich) Gewöhnliche das Außergewöhnliche sein kann, die (banale) Alltagswirklichkeit als geheime Offenbarung zu erkennen ist. Und zwar schicksalhaft zwingend, bei sonstigem blindem Verfehlen des Daseinsangebots.
Ich weiß nicht, ob ich alle eingearbeiteten Singularitäten entdeckt habe. Folgende Zitate mögen meine Anerkennung der Dichterin begründen und um Zustimmung vieler – dadurch in ihren eigenen bisher umschwiegenen seelischen Erfahrungen Bestätigter – werben:
„meinen Atemhauch auf einer Fensterscheibe/ mit D U L E B S T zu beschriften“
„ich war einmal ein Glaubenssatz/ eine ewige Wahrheit“
„krank bist du erst/ wenn etwas gefunden wurde“
„Häuser schlafen im Stehen“
„unter dem Haar streng verwaltete Räume“
„der Winter wird kommen und die/ Nacht und die kommenden/
Jahrtausende kommen ja auch“
„nimmermehr fängt etwas neu an im Frühling“
„Beten war eine Ungenauigkeit des Herzens/ einmal war er da jeder Aufschrei/ hat sich erübrigt“
„keine Rache/ nicht einmal Verteidigung“
„Nichtmehrverstandenwerdenwollen/ …nicht mehr der Hauch der Verzweiflung in allem“
„Erde ist die/ menschenfreundlichere Seite des Himmels“
„bitter hasserfüllt verzweifelt dämlich/… nur die Zeit totschlagen können/ brav/ und ab zu eine Fliege“
„seit sie von der Bühne ihres Hausbesorgerdaseins abgetreten ist/ …tritt sie in den Warteräumen ihrer Ärzte auf“
„bevor ihr Freund kommt nach der Arbeit/ sprüht sie ein Raumdeo überallhin“
„medizinisch ist der Fall ein klarer/ …was sie nicht mitbringt: Protektion“
„die Pension/ mit deinem Erscheinen weckst du ihren Neid/ …verpiss dich“
„ich bin nicht dagegen/ und lächle/ sparsam“
„verletz` mich nicht/ ich bin dann nicht gut im Vergessen“
„dieselben Gewölke wie vorher/ in einem anderen Licht“
„lass deinen Seelengrund im Verborgenen/ Gott/ braucht solche Winkel/…auf der Flucht“
„monatelang nichts geschrieben/ …Sprachgier/ … Eiszapfen aus dem Mund“
„ich werde… die Kanaldeckel schildern“
„Sprache wie Ölpest“
„ich bin wirklich genug“
„alte Geräusche am äußersten Rand des Gehirns“
Annemarie Moser (Trägerin vieler literarischer Anerkennungen, u. a. Preis Theodor Körner Stiftung, Lyrikpreis Kulturministerium, Würdigungspreis NÖ.) hat in ihrem gutherzigen Leben die Nichtigkeitssande und -fluten abgeseiht, abgesucht, um im Schwemmstoff nach Schwemmgut zu suchen. Sie siebt und unterscheidet und ordnet. Sie gewinnt Bedeutungslosem Bedeutung ab. Im Sieb liegen Heilsteine für uns.
Matthias Mander