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Anna Aldrian: Wär Seligkeit für mich „appassionato et capriccioso“

Lesezeit: cirka 5 Minuten.

8 Erzählungen, 205 Seiten

Verlag Stories & Friends

ISBN 978-3-942181-55-6

„Sojafelder auf welligem Hügelland, dazwischen da und dort in lichtgrünen Streifen bereits aufgegangene Getreide-Nachsaat. Rundum, immer das Ackerland bedrängend, der tropische Urwald. Papageienschwärme, die die Maissaaten auszupfen, Tukane in den Kronen der Kokospalmen, Affen, Wildschweine, ganz selten ein Tapir.“ (S. 8). Oder: „Meine angestaute Rührung nach fünfundvierzig Minuten Furtwängler endete in einem kaum zu bändigenden Lachanfall.“ (S. 14). Oder: „In dem winzigen Zimmer, das ihr Dona Eusebia angewiesen hatte, drehte sich ein Ungetüm von einem Deckenventilator und zermalmte die stickige Luft zu heißen, breiigen Schwaden.“ (S. 179). –

Vor rund 60 Jahren besuchte ich regelmäßig die wöchentlichen Vorlesungen des legendären jüdischen Literaten und Kritikers Hermann Hakel (1911-1987) „Wie und was man schreibt“ in der Wiener Urania. Er verordnete: „Prosa muss secco sein“, also trocken, kräftig, man müsse das, was man niederschreibe „sehen, hören, riechen oder schmecken.“ Nach wenigen Minuten Lektüre des hier zu besprechenden Buchs fiel mir heftigst dieses lang vergessene Diktum ein: Secco! Ja, ich genieße soeben eine starke Prosa, die diesem Kriterium voll entspricht.

Asunción, Paraguay; Konzerthaus Wien; Schubertiade Schwarzenberg; Wien 1741, Czernowitz 1820, 1920, 1944, St. Petersburg 1917, Buenos Aires 1946, 1976, 1977; Graz, Kittsee, Budapest, Korea; Salzburg; Resistencia, Argentinien, Chaco-Wüste, Tucumán; Wien AKH, Staatoper; Südsteiermark, Frauenberg, Encarnación, Windische Bühel, Karawankengipfel: Prosazugriff, Weltgeographie, Weltgeschichte und Zeitgeschichte, Menschenkenntnis, höchste Musikkompetenz, Sprach- und Stilkunst sind in acht Meisternovellen so perfekt ineinander komponiert, dass man zunächst nicht glauben kann, die Texte einer Debutantin zu lesen. Anna Aldrian zeigt auf 205 Buchseiten, wie man mit hellem gegenwärtigem Bewusstsein sowie zeitgenössischem literarischem Duktus, Ton und Tempo stärkste aktuelle Prosa schreiben kann, wenn man etwas zu sagen weiß. Und das ist hier überzeugend der Fall: Die 2015 ihr siebtes Jahrzehnt vollendende Autorin hat nach Philosophie-, Psychologie- und Geschichtestudium sowie kurzer Lehrtätigkeit über drei Jahrzehnte in mehreren südamerikanischen Staaten wirkungsvolle Entwicklungsdienste geleistet, dadurch ihrer Rezeption und Perspektive einen immensen Umsetzungsstoff

geschaffen, den sie nun ihren Leserinnen und Lesern – voll aufbereitet – schenkt. Nein, nicht etwa Reisebeschreibung oder -kolorit, leeres name droping werden geboten, sondern packendes Geschehen, frappierend, spannend, unerhört, mit singulären Personen: Pianist, Bassist, Cellist, Violinmagier, Missionar, Kolonist, Bischof, Revolutionärin, KZ-Verbrecher, Ghettobewohner – und die großen klassischen Musikstücke, mit erleuchtenden Worten vermittelt.

Ein auffälliger, oft gesetzter kräftiger Kontrapunkt in den Texten ist die treffende Drastik des Ausdrucks, dort, wo sie sich anbietet, der spröden Intelligenz aufdrängt. Drastik und Pragmatik, mit denen überwiegend Frauen befreiend begabt sind: „Neco, der korpulente Silberbräutigam, dirigierte auch mich in Balzfiguren um die Tische herum; mir wurde ganz heiß dabei.“ (S. 9). Eine Hazienda in Paraguay, das werde ich nicht ausschlagen, lieber Don Neco. Auch wenn du mitsamt deiner Genossenschaft mit dem …Erbe liebäugelst!“ (S. 10). „Wenigstens sang er nicht.“ (S. 12).- „Reichlich überkandidelt, was ich mir da gestern zusammengereimt habe… der Cellist… sehr jung noch, mit Kurzhaarschnitt, aber schon das Unverschämte, das Schamlose in den Augen, das Anstößige um den Mund.“ (S. 24). „Und? Was geht mich deine Wasserleiche an?“ …es ist einer der Geiger. Von gestern.“ „`In einem Bächlein helle` klingt schon zynisch, wenn einer aus dem Wienfluss gefischt worden ist …“ (S. 27). „Da verdienen die Pompfuneberer sich wieder schwarz und krumm.“ (S. 37). „Schau nicht so blöd, klatsch!“ (S. 45). – „1941 ist es so weit: Czernowitz bekommt sein Ghetto und die Wohnung Frida Kohns liegt mitten drin. … Das Kind, die fünfzehnjährige Judith, kämpft wie eine Ratte ums Überleben.“ (S. 58). „Für Judith, das Mädchen aus dem … Ghetto, ist Buenos Aires das Nonplusultra… – aus der Verbindung mit dem allzu sehr von sich eingenommenen Senor de Gardella war sie …bald ausgebrochen und hatte sich geschworen: Nie wieder ein Macho!“ (S. 64). –  „`Bitte`, sagt Judith flehend, `was wollen Sie von mir?` `Geld und Pass und Unterschlupf, bis ich abreise.`“ „Aymara ist im organisierten Widerstand… (sie) beauftragt Judith, den Fächer (Vivaldis) zu einem Trödler in San Telmo zu bringen. …`Dann bist du mich los.“ (71, 72).-  Judith und Aymara nehmen (in Wien) ihre Plätze in der ersten Reihe auf dem Balkon ein… `Erinnerst du dich? ` sagt sie, nimmt etwas Längliches aus ihrem Theatertäschchen und legt es vor Judith auf die Balkonbrüstung… Der Fächer! Die filigranen Elfenbeinstäbe mit den Musikanten! Die vier Jahreszeiten!“ (S. 79). – „Schauen wir uns doch einmal den verliebten Jo und seine Min Ji an. SMS hin, SMS her, im Stundentakt, auch wenn sie sich abends sehen werden… Und jedes Mal dieses penetrante 4ever. For ever? Dass ich nicht lache!“ (S. 99). – „Jetzt ist Lynn tot. Vergebung belanglos … ( S. 108). Der geheimnisumwitterte Celloton soll dich mir zurückholen aus der Unterwelt. Eine Wodkaflasche lang.“ (S. 110).-  „250 Kilometer Höllenpampa… Mein Hinterteil würde ein einziger blauer Fleck sein. (S. 115).- „Die Patientin war mit ihrem Freund in jeder Vorstellung des Tristan gewesen, in der Pause vor dem letzten Akt wurde gesnifft. Direkt in der Staatsoper, in einem WC.“ (S. 149).- „Vom Flughafen der Hauptstadt Asunción bis in diesen südlichsten Winkel Paraguays, wo üppige Vegetation, Sojafelder und Urwaldausläufer die Provinzstadt Encarnación bedrängten… (S. 169) Viele der zweirädrigen Pferdekarren mit Stoffdach waren Taxis… Außer ihr stiegen noch zwei Marktfrauen mit großen, prall mit Tomaten gefüllten Körben ins schmale Wägelchen. Als der Kutscher des altertümlichen Gefährts ein Handy aus der Hosentasche zog, ans Ohr hob und wie Gewehrsalven platzende Guaraní-Laute hinein schrie… (181).

Und doch: Obige Zitate sind eine kalkulierte Irreführung. Nach so viel Härtebeweisen ist der Rezipient beeindruckt von den Kantilenen und Motiven der gelungenen schönen Szenenschilderungen. Verklärung zwischen treffendem Befund. Kraftvoll zupackende Rede. Mitreißende Verlaufsgeschwindigkeit. Springfluten klügster Querverweise zwischen den brennend schicksalhaften Wissensgebieten und Erfahrungsschätzen.

Diese Schriften zu lesen, lohnt sich besonders.

Matthias Mander