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Anna Aldrian: Sonnseitig Schattseitig Erzählungen aus dem Steirischen Himmelreich

Lesezeit: cirka 5 Minuten.

Styria regional 2014

141 Seiten, ISBN 978-3-7012-0177-8
 

Exitus im Oratorium: Den alten Reichen aus dem Weindorf hat es in den Grazer Dom zur Mendelssohn-Musik verschlagen. Anna Aldrian erzählt das so: „`Es ist genug`, singt Elias. `Ich begehre nicht mehr zu leben. ` Das ist auf ihn gemünzt. Auf ihn, den schlagfertigen Rabauken, den herumbrüllenden Chef, den lustigen Sänger, ihn, den Kirchenwirt und Fleischhauer, dessen Wort Gewicht hat im Dorf. Das schwermütig-schleppende `Es ist genug` ist ihm wie ein Spiegel. Er sieht einen alten Mann, der voll Trauer zugibt: `Meine Tage sind vergeblich gewesen. ` Nein, aufhängen wird sich Kilian nicht. Sein hitziges Temperament wird ihn davor bewahren. `Ich habe geeifert um den Herrn`, braust der Prophet auf. Er, der Kilian, hat geeifert und geschuftet – für das Geschäft. Kein Urlaub, kein Sich-zur-Ruhe-Setzen. Wofür? `Es ist genug. `“

Die 141 Buchseiten des in diesem Herbst schon zweiten Prosawerks der nach weltweitem humanitären Einsatz jetzt im Südsteirischen lebenden Dichterin Anna Aldrian, zählt wohl zu den am meisten gehaltvollen Schriften – nicht nur über diese Region, sondern überhaupt … Acht Erzählungen, 62 Personen, geballte Schicksale, auch vieler Nebenfiguren, mit impressionistischer Verve durchgestaltet in starken Skizzen ihres Lebensringens, Lebensleidens, Lebensmutes. Viele schöne, wahre, treffende, packende, überwältigende und beglückende Sätze: Alle stimmig! Wie es sich für eine musikinspirierte, klanggezogene Tonschriftstellerin, Akkordbezwingerin, Lautmalerin gehört. „Die Musik ist nicht harmlos.“ (S. 106) Hierin hat eine vom  verunglückten „lebenslustigen“ Unterhalter zurückgelassene Mutter recht, die ihrer Tochter „jegliches Musizieren streng verboten“ hat.

Der Rezensent bekennt, er ist voreingenommen für das „Steirische Himmelreich“, ist von den Schilderungen fast unglaublich stark berührt, betrachtet er doch das Sulmtal, Sausal, Weinland, diese österreichische Toskana, auch als seine Heimat, die er vor zwei Generationen wienwärts verlassen hat. Anna Aldrians Erzählungen sind prallvoll mit Wirklichkeit, wie sie im Alltag gewöhnlicher Literaturbeflissener nicht vorkommen können. Und vollendet motivisch durchkomponiert, sprachlich erfasst. Was für ein Glücksfall für diese Wirklichkeit, eine derart weltkundige und lebenskundige Wahrnehmerin wie Anna Aldrian gefunden zu haben. Und für uns, solches lesen zu dürfen.

„Die Nachbarinnen holten sie, wenn ein Schwein krank wurde oder eine Kuh nicht kälbern konnte. Im Stall trug sie Gummistiefel, sonst steiflederne hohe Schnürschuhe über strapazierfähigen Strümpfen, sommers und winters. Die Stunde in der Kirche war für sie ein feierliches Ausrasten. Die Augen schwammen ihr im Wasser …, wenn eine Kuh zum Schlachter gebracht wurde.“ (S.8) „Gibt es von derer Musi eine Platte  …? Das möchte ich hören, wenn`s mit mir zum End geht.“ (10) – „Der Traktor sog mit einem gierigen, grünen Rachen Gras in sich hinein, das hinten wie ein fest gepresster Riesenkot ausgeworfen wurde. Der zweite Traktor nahm den gepressten Ballen auf ein Gestänge, schlang einen überbreiten, weißlichen Nylonverband herum und begann den zentnerschweren Rundballen einzuwickeln, bis er mumiengleich wieder vom Gestänge gerollt und auf der Wiese abgelegt wurde. (19) – „An jedem Dienstag, dem Schlachttag, hört man ihn mit seinen Arbeitern häuserweit schreien. Anders weiß er sich nicht zu helfen.“ (S. 36; Anm.: Ersetzt 10 Seiten Tiefenpsychologie!) – „Joseph Haydn… Lamentatione … beim Adagio hebt er den Kopf, um die stimmführende erste Oboe… in den Blick zu bekommen… Die Oboenklage setzt ihm mehr zu, als er sich das erlauben will.“ (S. 58) Heftige synkopische Akkordschläge unterbrechen immer wieder die Melodie, nicht aber die Tanzfreude des Kindes, das… sich zur volkstümlich-tänzerischen Antwort der Violinen dreht. Da ist es wieder, das kreisende Weltall… (S. 59) – „Sie steht im Keller an der Abfüllmaschine. Das Zischen der Leitungen, das Rauschen der Filtergeräte, das Klacken der Stoppelmaschine, das Klirren von Glas auf Glas beim Stapeln der vollen Flaschen – die geliebte Lärmsymphonie nach der Partitur eines gelungenen Werkes.“ (S. 78) „Dass sie, die Geschiedene, `die Wienerin`, überhaupt kreditwürdig ist, verdankt sie der Habgier des örtlichen Bankchefs, der sich sicher ist, dass dieser Weingarten in ausgezeichneter Lage sehr bald in den Besitz der Bank übergehen wird.“ (S. 84) – „Meine Mutter ist nie eine Robuste gewesen, aber unermüdlich und zäh. …ein gutes Dutzend Hühner und zwei Schweine. Meine Mutter mähte jeden Abend das `Saugras` und trug es korbweise zum Stall, plagte sich beim Füttern und Ausmisten… Daneben schneiderte Mutter für die Bäurinnen Dirndlkleider und Lodenmäntel… meine Kindheit war voll vom allgegenwärtigen Rattern der Singer-Nähmaschine. …Ich bin nicht arm! Arm waren für mich Kinder, die keine Milch hatten und nicht genug Sterz zum Essen.“ (S. 101, 102).

Anheimelnd klingen die in direkter Rede verwendeten Dialektanmutungen wie etwa:  Herrenleut, 6; Zuwi-singen, 8; heimgetan (vom Spital) 11; Ihr und Enk (Anrede für Respektpersonen) 25; eine geklescht (Ohrfeige) 35; Watschn, 36; neubachnes Brot, 59; Glasl, 62; Hoffart, 65; Gescheine (Traubenknötchen künftiger Früchte) 71; Dumadum-Dodl, 90; Voda, 91; depperter Murl, wischerln, 94; Madln, 95; Janker, 99; derstessen, 101;  Ummageher, Gaude, 104; windische Terz (Moll-Akkord), 107; Tabernakelwalzer (Marienlied) 109; leitschiach und wortfaul, 111.  Die hier aktuellen bzw. aktualisierten Wortwendungen dieser steirischen Sprachinsel wirken wie ein Sprachdenkmal, dessen Worte die Autorin als belebende „Neologismen“ ihren erstaunlichen Berichten eingefügt hat, die ansonsten durchaus in spitzem Zeitton verfasst sind: mein roter 2CV. 7; Computer… der örtlichen Raiffeisenbank, 21; Renommee, Show, Ressentiment, 27; Wellnessoase, Kuschelhotel, Thermalbad, Statikerin, Therapiezentrum, 29; Loyalität, 38; Planungsbüro, Eventmanagement, 44; kultiviertes Desinteresse, 56; Vergilbungskrankheit, Peronospora und Oidium, 72; Glyphosat-Totalschaden, 74; Drogenhändler, Islamist, Terrorist, Toleranzdemonstration, 85; bodenständige Bosheit, hinterhältiger Spott, 89; Desaster, 101.

Wie gesagt: 141 unerhörte Seiten! Anna Aldrian, haarscharf sehende und feinfühlige Poetin, zugleich starke, ja harte Beurteilerin und Benennerin des ihr und uns Gegebenen, Aufgetragenen, Zugemuteten hat somit in diesem und zugleich einem zweiten Buch je acht Erzählungen von der Kraft und Aussage gewichtiger Romane vorgelegt. Charakter und Qualität ihrer Prosa sind unverwechselbar. Die moderne Betriebslehre spricht vom `Alleinstellungsmerkmal`. Der bereits einsetzende große Publikumserfolg erlaubt – nach der Verleihung des Dombrowsky-Literaturpreises in Graz am 14.11.2014 – die Vorhersage weiterer größter Anerkennung.

Matthias Mander