Alfred Warnes: AUSGEMUSTERT
Lesezeit: ungefähr 5 Minuten.
Lyrik der Gegenwart, Band 33 Juli 2013
Edition Art Science 07/2013 84 Seiten ISBN 978-3-902864-23-9
Etwa eine halbe Stunde nach Lektürebeginn des neuesten Gedichtbuchs von Alfred Warnes fiel mir jener Satz des Albert Paris Gütersloh (1887 – 1973) ein, den ich seit Jahrzehnten bedenke: „Es gibt keine andere Zukunft der Kunst als jene, die in denen steckt,… die ihrer Zeit beinahe bis zum Verluste an bleibenden Werten genugtun“. Die scheinbar unerfüllbare Forderung des Meisters wird freilich durch das Wörtchen „beinahe“ gemildert.
Hier ist eine mir kaum erschließbare Wahrheit verborgen, doch mit dem Lesen des Warnes-Textes vermute ich ihr nähergerückt zu sein, wenn es darum geht, dem Dasein, dem Sosein, den aller Ideologien und Illusionen entkleideten Seinsbedingungen unbewehrt gegenüberzustehen (immerhin: gegenüber!), diese aus sprachkonventionellen Vorbedingungen zu lösen und von verzierenden also zweifelhaften Tendenzen zu befreien – allen Wohlklangs bar beinahe bis zur Aufgabe des Kunstanspruchs, somit aller ontologischen Elemente so ansichtig zu werden, dass keine instrumentalen Verzerrungen mehr für Wahrnehmungen des echten Seienden gehalten werden: Die Lyrik in „AUSGEMUSTERT“ misst als blanker Laserstrahl das Gegebene, diese Poesie zeigt durch Magnetresonanz letzte Fasern seelischer Weichteile (übertrifft hierin bei weitem die Röntgenprosa, die nur Knochenbrüche diagnostiziert).
Wenn also keine Kunst, das heißt kein Kunsthandwerk, kein Kunsttrick, kein Zauber, weder ein falscher noch ein richtiger, erlaubt sind, dann, glaube ich, nähert man sich der Güterlohschen Vorgabe. Alfred Warnes übt nicht Askese, er ist Asket! Er ist Besitzer abgrundtiefer Fülle im Verzicht. Oder mit seinen eigenen Worten, er ist ein „Weglasser“ (S. 9). Aber was für einer: Der eine Kathedrale erstehen lässt durch wohlgelegte Spuren im weiten Gelände …
Diese Übung ist nicht ohne Gefahr: Wie weit darf man sich hinausbeugen in das pure unverzierte, abdekorierte Sein, ohne der Sinne entmächtigt zu werden, gejagt von Banalitäten? „Bärlauchfeste als modischer Schnick-Schnack, grün, grün, grün sind alle meine Kleider. Entsorgt sind die Mogelpackungen.“ (S. 60) „Ekel bei der Benützung eines mit Kot und Erbrochenem verunreinigten Klo.“ (S. 50) „Wer wünscht nicht sich selbst auf dem Thronsessel vor einem Hintergrund tosischer Sicherheitsschlösser?“ (S. 48) „Wertschätzung, Würde und so, sind keine Kategorien der Zuordnung von Vermögen und Einkommen.“ (S. 34) „Nach einer Nacht in der Herzüberwachungsstation, dauernd am Monitor, nach Mödling transferiert über eigenen Wunsch wegen der günstigeren Erreichbarkeit für Besuche durch Frau und Tochter. (S. 21,22) „Gegenwart zählt mehr als die Vergangenheit, und die Zukunft ist ungewiss, welche Binsenerkenntnis, No na.“ (S. 17)
Zugegeben: Seitenlange fast kunstlose Texte, die weder philosophisch noch poetisch noch metaphorisch eine dichterische Wendung oder Verweisung zu enthalten scheinen – aber eben in dieser Durchfrostung letzte realistische Schärfe erweisen. Denn „AUSGEMUSTERT“ ist ein verständlicher, aber unzutreffender Titel, zwar ohne Fragezeichen, tränenreich, doch durchaus von kämpferischen Wortwendungen gefolgt.
„Die inneren Monologe… wachsen wie Tumore (S. 11) Vorfälle, nach denen man sich aufgeben möchte. (S. 14) „Die sich stets wiederholende Befassung mit der Niemalswiederkehr.“ (S. 19) „Fixiertsein auf Lappalien, umwölkt von den Schatten einer süßlichen Tristesse“ (S. 55) „Geröllmassen des Unterbewussten“ (S. 38) „…er merkt sich nichts… wie er verfallen ist… jetzt übt er Leseübungen… früher konnte er bluffen… mehr scheinen als er ist…“ (S. 26, 27) „Leere weiße Wände… zu unbedeutend…“ (29,30) „Wenn die erhofften Preisverleihungen ausgeblieben sind.“ (S. 8)
Der keineswegs ausgemusterte Alfred Warnes ist ein Mitdenkender, ein Mitlebender, Mitkämpfender, ein Mitsterbender, eben ein wahrer Mitmensch: Erstaunlich, zuweilen schockierend ununterscheidbar von mir und dir, weil er sich ganz, wirklich ganz nackt und bloß zeigt.
„Leben: in diesen Zuständen verfangen sein“ (S. 25.) „…Ich-Verschönerung in Anfällen der Verblendung.“ (S. 29) „Vergeuder und Verschleuderer, eitle Selbstinszenatoren, Lostreter auf jene, die ohnehin schon zu Boden gegangen und wehrlos gemacht sind, Hooligans, wenn sich eine passende Gelegenheit bietet, Ohrenbläser im Dreivierteltakt, hinterhältig und feig bis zum `es geht nicht mehr`.“ (S. 34) Der Aufschrei „Oh, nur eine Sekunde nicht bestechlich gewesen zu sein“ (62) erinnert mich an einen Ausruf in meinem „Kasuar“, 1979, „Halleluja, bis zuletzt nicht korrumpiert.“ (S. 313)
Die herzzerreissende Trauer über das nie durchsetzbare bessere Wissen glost unter vielen Versen wie in biblischen Psalmen.
Das zwar uneitle, aber nicht schmerzlose Ringen um öffentliche Beachtung, um Auszeichnung in einer Sonderwelt, um jene zweifelhafte Zufallsauserwähltheit zuckt so brennend durch die Gedichte, dass man dem Offenherzigen begütigend zurufen möchte: Solche Fragen sind nachrangig, gemessen an der essentiellen Dramatik jedes einzelnen unserer angeblich anonymen Leben. (Die Gotteskindschaft und Gottesunmittelbarkeit aller, absolut aller, sind treffende Wortbilder für das hier Gemeinte, nicht etwa unverbindlich tröstlich, sondern klärend, stärkend.) Und Alfred Warnes, der langjährige Präsident des Österreichischen Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverbands, stößt selbst zur Einsicht durch, siehe S. 37, 38: „Auf ein paar Menschen kommt es an, auf die man hofft, an die man glaubt … und umgekehrt, die einen lieben …“ Jawohl: Ein anderes Wirkungs- und Bewährungsfeld ist uns nicht gegeben. Und mitnichten kommt es an auf die gloriae mundi … Sich unter Absehung vom Ich nur noch der abstrahierenden Zusammenschau und Wahrnehmung voll Pietät und Poesie zu erfreuen, das heißt, Lebendigsein als Sättigung.
Die Anspielungen auf den Kummer, weder materiell noch immateriell ein ganz Erfolgreicher (?) geworden zu sein, lassen bedrückt mitleiden. Weil: Hätte er denn wirklich ein weiteres Subjekt in der angeblich so bedeutenden Schar der dümmlich selbstverliebten Selbstdurchsetzer werden wollen und sollen? Nein! Genau die Umstände, die der Dichter von „AUSGEMUSTERT“ derartig authentisch dokumentiert, sind seine Zeugenaufgabe, die nur er so singulär – und damit uns alle, die vielen Gleichartigen vertretend und bewertend, darstellen kann und leistet. Dafür haben wir ihm zu danken und ihn zu lieben (gemäß S. 38)
Das letzte Langgedicht des Bandes (S. 69 bis 71) ist eine Paraphrase der mosaischen Verfluchung jener, die die Gebote nicht befolgen: „Man wird über dich spotten… du wirst deinen Feinden dienen… es werden dir gesendet werden böse und langwierige Krankheiten… du wirst deines Lebens nicht sicher sein… wenn du verkauft wirst, dann wird es niemanden geben, der dich wieder einlöst…“ – Dieses Drohkapitel des Moses ist das letzte vor seinen Schlussverfügungen und Segnungen. Dort freilich findet sich der Satz: „Sein Land sei vom Herrn gesegnet mit Grundwasser, das in der Tiefe lagert… mit dem Besten uralter Berge…“ Dies sei dem gehorsamen Schmerzensmann Warnes – der nicht nur Gebotenes leistet und duldet, sondern Gebote erlässt – nun als Labung aus der von ihm selbst gewählten Quelle angeboten.
Noch nie habe ich das Gewicht des Wortes Genugtuung so gespürt wie jetzt, wenn ich Alfred Warnes für die Fertigstellung und Drucklegung seines Lyrikbuchs überzeugt und respektvoll dringend jene Genugtuung wünsche, die er sich redlich erworben hat.
Matthias Mander