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Joseph P. Strelka: Matthias Manders letzer Roman

Lesezeit: ungefähr 12 Minuten.

Matthias Mander ist einer der ganz wenigen Gegenwartsautoren, denen ich schon 1997 in meinem Buch Mitte, Maß und Mitgefühl. Werke und Autoren der österreichischen Literaturlandschaft einen ganzen Aufsatz gewidmet habe. Schon damals habe ich in seinen frühen Romanen auf die Verbindung von Mystik als wissender Vision und schonungsloser Zeitkritik hingewiesen. Sein letzter Roman mit dem geheimnisvollen Titel Die Holschuld oder Garanaser Filamente gibt in seiner durchkomponierten Ganzheit ein dichterisches Universum unserer Zeit und Welt und stellt ein spätes Meisterwerk dar. Er verdient einen eigenen Vortrag.

Der Roman ist der dritte Band einer Trilogie, der aber auch für sich allein steht und wert ist, für sich gelesen zu werden. Er spielt in der winzigen steirischen Gebirgsgemeinde Garanas, aus welcher der Held des Romans, der Hauptbuchhalter Johann Zisser stammt und in die er im Alter, wie der Roman schildert, zurückkehrt. Filamente sind fadenförmige Verbindungen im Universum, die Galaxienhaufen und Superhaufen mit einer höheren Galaxiendichte um riesige Hohlräume bauen. Mander verwendet den Begriff im übertragenen Sinn zur Beschreibung der verbindenden Fäden des dichterischen Universums, das er hier erbaut hat und in dessen Mitte er Johann Zisser, den Helden der ganzen Trilogie, gestellt hat.

Die Ortsgemeinde Garanas beschreibt der Autor im Vorwort als etwa sechzig Quadratkilometer große Koralm-Gemeinde mit dreihundert Einwohnern und einer Kirche aus dem 12. Jahrhundert. Das Wort Garanas hat die Bedeutung von einem „heckenumfriedeten, dornbewehrten Platz.“ Garanas hat aber in diesem Roman außer der geographischen Wirklichkeit eine zweifache Symbolfunktion. Erstens stellt es in einem Gegensatz zu Wien, aus welcher Großstadt der gealterte Held zurück in seinen Heimatort als Zuflucht flieht, einen Ort der Ruhe, des Friedens, der Stille in der Gebirgsnatur dar und zweitens macht der Autor selbst darauf aufmerksam, dass hier das Wort „dornbewehrt“ auf die Stimme Gottes hinweist, der im Exodus des Alten Testaments aus dem brennenden Dornbusch heraus zu Moses gesprochen hat. Er gab sich zu erkennen als der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, er nannte seinen Namen JHWH und er berief Moses zum Retter seines Volkes, das er aus der ägyptischen Gefangenschaft in die Freiheit führen sollte. Damit weist er auf eine geradezu mythisch-religiöse Dimension seines Romans hin. Ein großer Autor der Weltliteratur, Manes Sperber, hat schon 1949 den „Brennenden Dornbusch“ zum Titel eines unvergesslichen Romans gemacht. Damals war es um den Bazillus und die alles niederwälzende Macht des Nazismus in ganz Europa gegangen, heute bei Mander geht es um den Bazillus und die alles niederwälzende Macht des Materialismus der ganzen Welt, durch den die Profitgier von Großbanken und Großinvestoren mit den ideologischen Phrasen der Neuen Linken eine unheilige Allianz eingeht. Es ist wie zu Zeiten Moses der Tanz seines Volkes um das goldene Kalb.

Es gibt aber auch Anbetung dieses Kalbs durch machthungrige Vertreter angeblich religiöser Gruppen, die  nichtexistente Spiritualität heucheln.

Zwischen den beiden Polen der heilen Welt von Garanas und der Spiritualität Zissers einerseits und der Welt des Betrugs und der gewissenlosen Profitgier andererseits, für welche zunächst die Finanzherren der Taborwerke stehen, das sich aber auf die gesamte Welt ausdehnt, spielt der Roman, dessen Held an beiden Welten teil hat, der von der einen Trost und Stärke empfängt und von der anderen zermalmt zu werden droht.

Dieser Held hat auf den ersten Blick so wenig Sensationelles an sich, dass man fast an  Stifter denken könnte. Er ist kein waghalsiger Nordpolforscher, der um der Forschung willen sein Leben in die Schanze schlägt, noch ist er ein großer Skispringer, der den Jubel der Masse und die langen Berichte der Journaille auf seiner Seite hätte. Er ist ein unendlich stiller und unbewusster Held der Anständigkeit. Aber gerade das ist es, worauf im wirklichen Leben im Grunde alles ankommt und was das hohe Lied für ihn so wunderbar macht. Die Umwelt ist so sehr Gegenwartsliteratur, dass es nicht besser geht. Der Roman spielt  in dem einzigen Jahr vom November 2010 bis zum Oktober 2011.

Für den Kenner und Liebhaber von Dichtung gibt es freilich genug „Spannung“ besonderer Art, von der sprachlichen Durchformung im Einzelnen bis zur Dichte und zur manches Mal packenden Art der Darstellung. Besonders groß aber ist die Aktualität dieses Romans, denn er führt seine Zeitkritik am Modell der Riesenkorruption eines Großbetriebes, der dichterisch erfundenen Taborwerke dar, deren Vernichtung  ein Großbetrüger auf dem Gewissen hat und dazu auch noch das Versagen des Gerichts, diesen, trotz der Bemühungen des Helden Zisser, aufzudecken und zu sühnen.

Zunächst zeigt das Buch also einmal die Gefahren der gegenwärtigen Situation für die einfachen Menschen an, da die größten Betriebe und Institutionen oft in Händen von brutalen Machtmenschen, untreuen Verwaltern oder Parteigünstlingen liegen. Dagegen kämpfen am Modell der Taborwerke der ehemalige Hauptbuchhalter wie der Belegschaftsanwalt Brenda an. Wie der Autor, ein Kenner der Lage, in einem Interview festgestellt hat: „Das gegenwärtige Welt-Rechnungswesen leistet die Informationsversorgung nicht mehr auf der Höhe unseres Wissens.“ Wie in der verbreiteten populistischen Politik ist auch in der Wirtschaft alles auf die Verdummung der Menschen hin angelegt. Eine überwuchernde, ins Sinnlose gesteigerte Bürokratie unterstützt noch das Ganze.

Der Held des Romans ist früherer Oberbuchhalter der Taborwerke und jetziger Obmann eines Vereins der geprellten Belegschaft, die durch einen Großbetrüger durch den Konkurs der Werke in die Arbeitslosigkeit gestoßen, ihren gesetzlichen Anspruch auf ihre Abfertigung verloren haben. Dem Obmann Zisser steht sein Vereinsleiter Aloys Mlady treu zur Seite. Der Roman beginnt mit der Gerichtsverhandlung, in welcher nach zehnjährigem Ringen der Betrüger frei gesprochen wird.

Damit war für Zisser der Verlust seines Arbeitsplatzes, seiner Wiener Wohnung und seiner Ersparnisse besiegelt. Er fuhr mit seinem alten, kleinen Citroen aus der Stadt seiner Niederlage zurück in seine kleine Heimatgemeinde in der Koralpe. Dort in Garanas gab es einen großen Bauernhof, den Schwaighof, wo er testamentarisch auf Lebenszeit das Wohnrecht geerbt hatte.

Was aber wie ein Ende aussieht, ist der Beginn. Der Schwaighof, gehörte jetzt dem Landespflegeheim in Schwanberg, das dort besonders leichte Außenpatienten unterbringen wollte. Der erste Außenpatient, der einzieht, ist ehemaliger Buchhaltungslehrer der Handelsschule in Leibnitz und dadurch eigentlich ein Kollege Zissers. Vor allem aber ist er ein Schwanberger Original, das in seinem ganzen Leben alle wichtigen Ereignisse der Welt gesammelt und in seinem Gehirn von unerhörter Leistungsfähigkeit auch eingespeichert hatte, was ihm den Namen „der Merker“ verschafft hatte. Mit seinem Einzug beginnt sich in diesem modernen Roman die polyperspektivische Struktur zu entfalten, die ihn kennzeichnet. Es sind ein Dutzend Perspektiven von verschiedenen Personen, die in Zissers Leben treten oder schon früher getreten sind. Mit dem „Merker“ beginnt sich das Ganze auf Weltumfang auszubreiten durch das Einstreuen von Einzelfakten aus Wirtschaft, Politik und Kultur.

Eine der wichtigsten Mitteilungen, die der Merker vor Zisser ausbreitet, ist eine, die zeigt, wie Buchhaltung mit Weltpolitik zusammenhängen kann. Er macht Zisser darauf aufmerksam, dass am 15. November 2008 der Obmann eines Privatvereins, der die amerikanischen Bilanzbestimmungen festlegt, an den Präsidenten George W. Bush einen Brief geschickt hatte, unterzeichnet vom Finanzminister und dem Chef der Staatsbank, in dem der Präsident aufgefordert wird, beim kommenden G-20 Weltgipfel den Antrag abzulehnen, die amerikanische Bilanzierungsweise zu ordnen. Durch diese Ablehnung konnte Fakten vertuscht und verändert werden, so dass durch falsche Rechnungslegung immer wieder Aktien verkauft werden konnten, um betrügerisch Geld zu beschaffen. Es war nicht zufällig der Präsident, der durch die Einführung seines „Patriot-Acts“ alle Freiheiten der amerikanischen Verfassung, auf die er einen Eid geleistet hatte, abgeschafft hat. Seinem Lippenbekenntnis nach aber war er einer der religiösesten. Was tut man nicht alles für seine Wähler.

Eine andere Perspektive kommt herein durch den Vereinsleiter Mlady und wieder eine andere durch den Belegschaftsanwalt Brenda. Aus den Briefen und Gesprächen mit ihm, erfährt Zisser besonders genau, welche katastrophale Rolle im verlorenen Prozess eine Begutachter-Rolle gespielt hat, die am Ende des Romans wichtig werden wird. Von hier führen die Gedankengänge viel weiter, so zum Krieg,  der immer von „Sorgfaltspflicht, Unterscheidung, Rechtmäßigkeit“ entbindet und sie damit auslöscht. Der Antrieb zum Krieg aber – abgesehen vom wirklichen Verteidigungskrieg – sind immer „Stolz und Gier“, vielleicht besser noch Arroganz und Gier.

Zisser setzt sich im Verlauf des Romans für neue Regeln in der Wirtschaft ein, hilft den Angestellten einer Bank durch Rat ihre Posten zu erhalten, trifft eine alte Liebe wieder, aber das durchgehende Hauptthema  des ganzen Romans bleiben doch die Probleme der Holschuld und auch die Verbindungsfäden der Filamente zwischen wichtigen Tatsachen und Ereignissen. Allerdings erfahren sie im letzten Viertel des Romans eine außerordentliche Vertiefung ins Metaphysische, die am Beispiel von Zissers Verbindung mit einem jungen Priester in Erzählform stattfindet.

Der Autor hat nicht zufällig schon mit seinen ersten großen Romanen an Musil und Broch angeknüpft. Wie bei diesen geht es um eine geistige Entwicklung, hier jene von Johann Zisser. Broch hat einmal darauf hingewiesen, dass die wichtigen Fragen des Lebens metaphysische Fragen sind, des „Woher“ wie des „Wohin“ und der „Selbstfindung“. Ein anderes Mal hat er Dichtung als Ungeduld der Erkenntnis bezeichnet, weil sie über die Grenzen des Verstandes und der Wissenschaft hinaus reicht. Alles das wird im letzten  Viertel des Romans an der Episode veranschaulicht, in welcher sich der junge Kaplan Theo Plach in seiner geistig-seelischen Krise plötzlich an Zisser wendet. Diese Episode tritt nun voll in den Vordergrund.

Der junge Kaplan stellt neben Garanas und Zisser selbst die einzige Verbindung zwischen  diesem Roman und den vorherigen Bänden der Trilogie dar.  Er ist der Enkel jenes in den Selbstmord getriebenen Architekten, welcher der Held des zweiten Romans über den Bau der Reichsbrücke und ihren Einsturz ist.

Was aber die metaphysische Schlussphase des Romans mit dem Versagen, den Betrug und Schwindel in Wirtschaft, Politik und Kultur tief verbindet, ist das, was Hermann Broch den „Wertzerfall“ genannt hat und der auf den Verlust eines Wertzentrums zurück geht, wie es im Mittelalter Gott dargestellt hat. Wenn heute in den  Taborwerken Hallen und Maschinen verschrottet werden, die Grundstücke verkauft, die arbeitenden Menschen in die Not getrieben, dann ist es nicht mehr der Mensch, der im Mittelpunkt steht, geschweige denn Gott, sondern das Prinzip business is business und der Profit um des Profits willen.

Die Krise des jungen Kaplans, eine Glaubenskrise, hängt auch damit zusammen, dass nicht nur er, sondern mehr noch seine Pfarrgemeinde in eine Zeit dieses Wertzerfalls hinein geboren wurde. Dazu kommt noch – im Unterschied zum alten, erfahrenen Bergpfarrer Hadolt – seine Jugend und Unerfahrenheit mit dem Leben.

Dazu kommt noch weiter, dass ihm jene ganzheitliche, mystische Vision mangelt, die schon beim frühen Autor Mander gegeben war. Sein gleichzeitiges „Ich glaube an Gott“ und „Ich glaube nicht an Gott“ führt zwar erstaunlich nahe an die spekulative Schau des größten christlichen Mystikers Meister Eckhart heran, aber Plach vermag nicht, den Schritt vom verstandesmäßigen Gegensatz der beiden Aussagen zu einem übergegensätzlichen Dritten, das sie beide einschließt, zu machen. Die zeitbedingte, einseitige Riesenmacht des Verstandes hindert ihn daran. Die wirkliche religiöse Kraft von innen her kommt von der mystischen Seite und aus welchen Gründen immer, besaß er sie nicht und wurde so in eine Pfarrgemeinde im Norden Wiens hinaus geschickt, für deren überwiegende Mehrheit jegliche Idee jenseits eines oberflächlichen Materialismus einfach unfassbar ist. Es konnte ihm einfach nicht gelingen, eine wirkliche Kommunikation mit diesen Menschen her zu stellen. In seiner tief sitzenden Verzweiflung über sein Versagen, da er nur sich die Schuld daran zuschiebt, nimmt er Zuflucht zu Zisser, von dem er weiß, dass er schon eine ähnliche, schier ausweglose Krise im Leben seines Großvaters richtig verstanden hat und fährt hinaus in die heile Welt von Garanas.

Die Spiritualität des Autors, vielleicht auch weil er ein wirklicher Dichter ist, sitzt tiefer. Darum vermag er auch aus tiefster Überzeugung und sehr richtig bei seiner Erklärung des „dornenumwehrten Garanas“ im Vorwort auf die mythische Überlieferung der alttestamentarischen Exegese hin zu weisen, in welcher Gott aus dem Brennenden Dornbusch heraus zu Moses gesprochen hat.

Als der Kaplan Plach, in seiner Verzweiflung in der Pauli-Höhle des Koralm-Gebiets Selbstmord begehen möchte, den er fälschlich als Martyrium und Opfer auslegt, und als er von Zisser und dem alten Pfarrer Hadolt gerettet wird, da zitiert Hadolt, um den Kaplan auf zu richten, eine andere Stelle aus dem Alten Testament, in welcher Moses zu Gott klagte: „Ich kann dieses ganze Volk nicht allein tragen. Es ist mir zu schwer….Bring mich lieber gleich um. Ich will das Elend nicht mehr anschauen.“ Sein Volk hatte wie Plachs Wiener Pfarrgemeinde das goldene Kalb angebetet.

Da fragt Zisser ungeduldig: „Und was antwortete der Herr?“ „Der Herr versprach ihm, seinen Geist auch auf jene zu legen, damit Moses sie nicht mehr allein tragen müsse.“

Die Frage, ob der Kaplan nicht richtig geklagt hatte oder ob der Herr Gründe gehabt hatte, in seinem Fall nicht wie zu Moses zu antworten, bleibt im Roman unerörtert, da sie von der Erzählung der Verzweiflung Plachs selbst wegführen würde.

Der alte, weise Hadolt weiß auch genau, dass es in dieser Welt keinen totalen Sieg des Geistigen für alle geben kann, weshalb er Plach darauf aufmerksam macht, dass alles, was uns bleibt, ist, geduldig aus zu harren. Zisser aber hatte schon zuvor in einem Brief an Plach das Zitat des Kirchenvaters Origines geschrieben, das er Gott in den Mund gelegt hat: „Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe.“ Und er fragte Plach, ob er „nicht schon Brandwunden hätte“.

Der Autor aber schließt die „physischen“ Teile und den metaphysischen Teil des Romans zu einer geradezu  bewundernswerten Ganzheitlichkeit zusammen. Der alte Pfarrer Hadolt bekennt ein, auch vom jungen Kaplan etwas gelernt zu haben. Doch wenn dieser jemals gedacht hat, sein Selbstmord könne ein Martyrium sein, dann  sei er im Unrecht. Denn das Selbstopfer sei eine besondere Gnade: „Das Martyrium ist keine Bringschuld, sondern eine Holschuld, die nur vom  bezwingend Wahren zu nicht bestimmter Stunde eingeholt wird.“

Ein anderes Mal aber, als Plach fragt: „Aber wieso hierfür das Wort Gott?“ erklärt ihm Hadolt: „…sehen, leben, volles Teilhaben am Ganzen….könnte ich das sprachlich ausführen, bräuchte ich das Wort Filamente nicht….“

Wie die physischen Teile und der metaphysische Teil, so schließen sich auch die zwölf Perspektiven zu einer einzigen, großen geistigen Ganzheitlichkeit zusammen. Es ist eine um die Wahrheit ringende, warme Geistigkeit, trotz all der vielen angeführten bösen und oft entsetzlichen Tatsachen und Wahrheiten unserer Lebenswirklichkeit. Es ist eine Geistigkeit der Menschenfreundlichkeit und Lebensbejahung und sie breitet über den Ausgang des Buches die tröstliche Gewissheit des Muts zum Streben nach der Wahrheit aus und zur Geduld als vorläufiger Lösung der niemals endenden Krisen auf der Suche nach dem Daseins-Sinn.

Joseph P. Strelka