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Dietmar Scharmitzer: Bescheidene Anmerkung zu Matthias Manders neuem Roman „Die Holschuld oder Garanaser Filamente“

Lesezeit: ungefähr 5 Minuten.

Ein Mann aus der Provinz kommt in der Nachkriegszeit in die Hauptstadt; geprägt von Traditionen, überschaubaren Lebenskreisen, empört er sich über die Korruption  und schreibt gegen die Trägheit des Herzens und gegen die Feigheit der allzu vielen an, indem er den frommen Mut einzelner Helden besingt, und die Waffen, die ihnen zu Gebote stehen; Halt geben ihm das Lob der Heimat, des eingefriedeten Bereichs, der zu schützen, der ständig durch unermüdliche Arbeit, durch an die Grenze gehende handgreifliche Mühe bis hin zur frommen Sorge um den Bienenstock zu hegen ist, dessen man sich aber niemals sicher sein kann, denn das unlautere Gebaren der Usurpatoren vertreibt sogar die Eingesessenen, und ein lediglich der PR nützlicher Gnadenakt eines Mächtigen kann einem Einzelnen das Geraubte zurückerstatten, damit er den Mund hält und in das Lob des globalisierten Übermuts einstimmt…

Wovon ist die Rede? Der klassische Philologe könnte bei dieser Beschreibung an Vergil denken, den Mantuaner in Rom; die obige Periphrase passt allerdings auch punktgenau auf den Autor der „Garanaser Trilogie“. Ein Zufall? Ich würde sagen, eine notwendige Parallele angesichts der Not der Zeit, die dem Einzelnen gerade noch das Wort lässt, das aber auch immer durchdacht und verteidigt sein muss gegen die aalglatte Beliebigkeit des Ökonomie-hörigen Neusprech; der Akt der Notwehr überschreitet bereits das, was man noch bei genauer Prüfung als moralisch unbedenklich durchgehen lassen möchte. Es ist dabei ein Qualitäts­merkmal, dass Mander nicht zu schnell oder von den Falschen verstanden und belobhudelt wurde, sein Werk ist nichts weniger als „genial“, es ist die Lebensernte eines Homme des lettres. Die Tiefe seines Textes verdankt sich einer lebenslang, in der Vita activa bewährten, ständigen Bedachtnahme, ob man das, was man tun kann, auch tun darf oder soll. Dank einer solchen tief verwurzelten, erprobten Standfestigkeit erreicht die hier gezeigte Imagination Höhen, die die selbstgefälligen Poseure der Szene, die in sich selbst ihr Ziel sehen, nicht einmal wahrzunehmen in der Lage sind. Beispiele gefällig?

Die Figur des halb nackten, von Grind und Gestank geplagten Pfarrer Hadolt (S. 92 f), der, umschwirrt von Fliegen, seine „Katechese“ hält, trifft mühelos und unprätentiös jenen Kernpunkt christlicher Demut bzw. einer Hingabe an das Konzept nachhaltigen Umgangs mit der Wirklichkeit, in dem die Made des Simeon Stylites, die sich an der Wunde des Asketen sättigen darf, die Frage nach der Theodizee, warum es solches Ungeziefer überhaupt gibt, klären kann; dass derartige, wohl zum Teil degoutante biologische Heilmethoden zumindest schon dem Leibarzt Napoleons, Dominique Jean Larrey, bekannt waren, dass sie aber vermutlich die Volksmedizin mit Selbstverständlichkeit längst angewendet hat, zeigt, dass so manche neue Erkenntnisse lediglich wieder aufgefundene, sehr alte Weisheiten sind.

Andererseits sind gute und böse Affekte in diesem Buch doch im Allgemeinen buntscheckig verteilt, die Täter- und Opferrolle wird gelegentlich umgedreht, der Heimsuchung wird heimgeleuchtet. Der rote Renault Clio, den Herr Küstler im Schweinestall unterstellt, mit abgeschraubten Nummerntafeln (S. 74) – er bedient das Motiv Frankreich, das als ein historischer und geographischer Antipode immer wieder  auftaucht, und man könnte im Namen der Muse sich daran erinnern lassen, dass die Geschichte zwar mit Blut geschrieben wird, dass aber eben diese Exekution, wie die Schweine, die parallel zu Mk. 5 verschwunden sind, andeuten können, den Dämonen die Bahn öffnet. Dass dieses mit den Mitteln des Rechts oder der Ratio nicht konform gehen kann, ist verständlich – die Legitimation fehlt eben. Und das „Schwein“ wurde in den Abgrund gestürzt, in einer „Höllenfahrt“ (S. 73); und ob dort, in der behelfsmäßigen Garage, im verlassenen Stall, noch einmal ein Platz für Schafe sein wird, bleibt ungewiss (S. 209). Der Bordellbesitzer findet in seinem weißen Audi (wer Ohren hat, der höre – ist dies die Verfolgung durch den Tyrannen? Vgl. Luther WA 7,435) seinen Tod im Krieg; die Gier, seinen Beutezug zu beenden, macht es möglich, ihn im Gedränge von der Hohen Wand zu stürzen (S. 294).

Vieles wäre zu bemerken und zu zeigen; einen ersten Kommentarband zu erstellen wäre eine lohnende Aufgabe für einen ordentlichen, gut betreuten Dissertanten. Bei all diesen Bezügen und Kommentaren eines menschenfreundlichen auktorialen Erzählers, der im Material nicht ertrinkt, sondern es sich völlig bewusst macht, gewaltsam, als improbus labor (um Vergil nochmals zu bemühen) – das Letzte, was man Matthias Mander vorwerfen kann, ist Eskapismus. Allzu präsent sind die Dämonen der Gegenwart, bis hin zum Computerschrott unter dem Rindenmulch. Die Romantik ist gründlich desavouiert; das Paradies ist immer neu zurückzuerobern, die Schlange nie fern. Die „Holschuld“ – eine Metapher dafür, dass wir unser Ziel nur und allenfalls durch Motion, Emotion, Motivation, durch Engagement und Anstrengung erreichen können und dass jedenfalls in diesem Sinn der Weg das Ziel ist – solche Gedanken befremden die Generation der ferngesteuerten und fremdbestimmten User, die hilflos in dem und jenem Netz zappeln, während nur noch ein – erfolgreicher! – Busunternehmer zu wissen scheint, dass „Leben in Bewegung“ stattfindet. Wir fangen niemals bei Null an; die Altlast, die Hypothek, die Kontamination sind präsent, mag man sie jetzt als „Erbschuld“ im Wortsinn begreifen oder nicht.

Gefällig und zeitgemäß ist das gerade nicht; poetologisch hieb- und stichfest allerdings schon, denn das Genre des Lehrgedichts ist immer auch ausdrücklich als Sonderform des Epos begriffen worden. Welthaltigkeit, Engagement, Wut – Zeichen unliterarischen Abgleitens in die Tendenz? Wenn dem so wäre, müssten wir auch Dantes Jenseits verwerfen, denn dem Templer-Kandidaten, dem die verbrecherische Zerschlagung dieses Ordens als seiner geistigen Heimat den Boden unter den Füßen wegzog, hat über weite Strecken, beim endlosen Aufzählen der Unterweltsünder, die blanke Erbitterung die Feder geführt – und aus seiner literarischen Hölle kann, wie Heine festgestellt hat, keine Fürbitte mehr retten.

Zum Epos gehört übrigens auch der Katalog; das beginnt mit der Aufzählung der Schiffe vor Troja durch Homer, der Flüsse und Berge, die Phaëton in einem Akt gigantischer Umwelt­zerstörung bei Ovid versengt hat, bis hin zum Abarbeiten von Pschunders Speiskart´n im „Kirbisch“ von Anton Wildgans. An der Form ist also, wenn wir fürs Erste bei den Symptomen bleiben und nicht zur philologischen Obduktion der Details weitergehen, nicht zu rütteln – mögen sich auch manche daran reiben. Aber um die Form zu erfahren, muss man sich ihr zuerst einmal lesend, und das heißt mit Geduld und wacher Aufmerksamkeit, überlassen. Das ist, zumal auf ungebahnten Pfaden, ein Programm für wenige.

Manders Romane sind eigengesetzlich, in sich stimmig, sperrig, unangenehm und trotz ihres Offenseins für den gestirnten Himmel über uns von verblüffender Bodenhaftung; welchen Platz sie im Kanon der österreichischen Literatur auf Dauer einnehmen, wird die Zeit erweisen.

Wien, am 16. Juni 2013

                                                                                  Dietmar Scharmitzer