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Dr. Erich Hamberger: Auswegweisende Zumutung

Lesezeit: ungefähr 8 Minuten.

Matthias Manders neuer Roman Die Holschuld oder Garanaser Filamente, der letzte einer Trilogie nach Garanas oder die Litanei (2001)und Der Brückenfall oder das Drehherz (2005) ist ein Ereignis, ja mehr als das: eine auswegweisende Zumutung.

Als Hinführung zur Holschuld bietet sich jenes frühe Werk an, mit dem Mander die literarische Romancier-Bühne betreten hat: der Kasuar. Wohl nicht zufällig erscheint es im selben Jahr 1979 wie der Initialessay zur Postmoderne: Lyotards La condition postmoderne. In beiden Schriften geht es um fundamentale Kritik an den großen Erzählungen und Verheißungen der Moderne. Während die Vertreter der Postmoderne im „Abschied vom Prinzipiellen“ (Odo Marquart) ein positives Gegenmodell zu den uniformen Ideologien der Neuzeit erblicken, sieht Mander darin primär eine andere Gestalt der sich ausbreitenden Sinn-Leere. Rausak, der Hauptgestalt des Romans, gelingt es nicht, seinen Kindern Ratschläge zu hinterlassen, wie man sich im Leben bewährt. Gewahrt er diese Ermangelung an Tiefem als existenzielles Defizit, so bildet für die in Garanas und der Holschuld agierenden Profiteusen und Profiteure die Fixiertheit auf die Oberfläche gerade die essentielle Erfolgsbedingung.

Mander zeigt uns dabei eine mammonesk-wunderlose Wirtschaftswelt, die buchstäblich verrückt geworden ist, weil die trefflichen Unbetroffenen – um mit Chesterton zu sprechen – alles verloren haben außer ihren Verstand. Dies ist konsequent gedacht. Denn je weniger Sinn, desto mehr rücken zwangsläufig Nützlichkeit und Rentabilität in den Vordergrund. Alles scheint widerstandlos einfügbar in beliebige Kapital- und Kommunikationsprozesse, derenletztlicheBasis das – jede Singularität nivellierende – Geld darstellt.

Auf den ersten Blick scheint die – den Kasuar kennzeichnende – Unfähigkeit, sich über die Zweckverhaftetheit zu erheben, in der Holschuld noch gesteigert im Zentrum zu stehen. Denn Johann Zisser, Protagonist der Trilogie, inzwischen 80-jährig, wird dort als jemand geschildert, der mit vielen anderen durch Wirtschaftskriminalität alles verloren hat: Rentenanspruch, Wohnung, Ersparnisse. Was ihm einzig bleibt, ist seine Rückzugsmöglichkeit in die Bergeinöde von Garanas, wo ihm der jüngst verstorbene Vetter Max ein Wohnrecht auf Lebenszeit eingeräumt hat.

Dem entsprechend beginnt der Roman mit der Fahrt Zissers in seinem alten Citröen vom Gerichtsgebäude in der Wickenburggasse im 8. Wiener Gemeindebezirk in Richtung steirische Koralpe. Obwohl Mander in weiterer Folge minutiös und rhizomatisch die legal-kriminellen Machinationen der Finanzunterweltler aufzeigt, geht es ihm letztlich nicht um Kapitalismuskritik. Auch nicht um ein „nachgeschichtliches Zurück“ zur heilen Natur. Wohl deshalb tun sich manche schwer, die Mander’sche Trilogie, speziell die Holschuld, literarischzu verorten. Von einer Anklageschrift gegen den „Terror der Ökonomie“ ist da die Rede, von einer seltsamen Mischung aus Roman, wirtschaftsphilosophischem Essay und moraltheologischem Traktat oder vom Vorhaben, die ökonomische Materie in hohe Literatur zu verwandeln.

Mander geht es jedoch um Grundlegenderes: Um die Frage, ob sich jemand treu zu bleiben vermag, auch nachdem er durch Veruntreuung alles verloren hat; ob eine und einer von uns wach bleiben kann für das Sich-Ereignen von Sinn, ob es Menschen möglich ist – um mit Christian Paul Berger zu sprechen – „heimisch zu werden in der Hiobswelt“. Dies jedoch gerade nicht in der Weise wie Emma, die Hauptgestalt in Flauberts Madame Bovary, nach „Sinnsationen“ Ausschau hält, nach Möglichkeiten, sich untreu zu werden; sondern durch offen-bleiben, offen-werden ohne Erwartung, in der Selbstwahl eigener Klein- ja Ohnmächtigkeit. Genau darum ringt Hans Zisser am Schwaighof in Garanas, bedroht von Stimmen der Vergeblichkeit und vom süßen Gift der Verbitterung. Dem sucht er durch Ausschreiten in die ihn umgebende Natur, vor allem durch seine Bemühung um aufblickserweiternde, „filamentale“ Wahrnehmung und Begegnungsoffenheit zu entgehen. Etwa wenn er den – ihm zugewiesenen – „selbstständigen Patienten“ Valentin Laller so lange in seinem monologischen Zwangsredefluss ernst nimmt, bis dieser allmählich zu antworten beginnt. Auf diese Weise hält sich der „unheldenhafte Held“ in Manders Trilogie aufrecht für die Ahnung eines Ankommenden. Dieses widerfährt Hans Zisser schließlich in Gestalt der Rosa Zweiner, Gewerkschaftsvorsitzende jener ominösen Omnia-Bank, die seinerzeit die Taborwerke, bei denen er als Oberbuchhalter tätig war, aus reinen Renditeoptimierungsgründen gezielt in den Ruin getrieben hat und nun selbst am Rande des Abgrundes steht. Sie kommt übers Wochenende nach Garanas hinauf zu ihm, dem einstmaligen Widerpart(ner), um Rat einzuholen, wie sie sich in den anstehenden Auseinandersetzungen mit den Winkelbankern der Chefetage am besten verhalten solle.

Ausgerechnet in diesem hochpragmatischen Zusammenhang gelingt es Mander, auf Sinn hinzuweisen. Lesen wir selbst, wie er dabei vorgeht: „Zisser bedachte später in seiner Kammer unten vor dem Einschlafen noch lang, wie außer ihm niemand Rosa sieht. Nämlich als sorgfältig ihre gehetzten Jahre abarbeitende, sozial engagierte, aber menschlich unerkannte, unbedankte Frau, womöglich ungeliebt, verborgen schön nach so viel Leid. Die von ihr verteidigten Mitarbeiter erklären sich ihren opferreichen Einsatz vielleicht einfach als ihre ‚Selbstverwirklichung‘, der sie keinen weiteren eigenen Dank schulden. Ihr entfremdeter Mann hat wohl mit dem Schlagwort ‚Karrierefrau‘ sein Gewissen betäubt.“ (S.155)

Mander postuliert damit – gegen den common sense der Auf- und Abgeklärten – die Möglichkeit zu selbstlosem Handeln für den anderen. Dass dies keine unbedachte Äußerung darstellt zeigt sich, wenn er Hans Zisser – den Mander in der Holschuld als Autor des Garanasbuches ausgibt – in Anbetracht eines Bildnisses in der Garanaser Kirche auf die Frage von Rosa Zweiner: „Du hast in deinem Garanasbuch über dieses Allerheiligengemälde geschrieben, dass viele deiner Mitmenschen … als heiligmäßig gelten könnten: Selbstlos, wohltätig und wahrheitsbezogen, wie sie arbeiten. Aber sag mir, wie versteht denn eigentlich die Gegenwart die Welt?“ antworten lässt: „Gar nicht. Dieser Anspruch ist abgetan. Von den Hochmütigen für unerfüllbar erklärt. … Demütiger Mensch zu sein, dieses Dasein als geheimnisvoll, ahnungsvoll, wandelbar, begnadbar zu bestaunen, gefährdet ihren Stolz.“ (S.195)

Wenn Mander in der Folge schreibt, dass Rosa Hans bittet: „Jeder von uns beiden bleibt vom anderen ganz erkannt und anerkannt; die getrennten äußeren Umstände schmälern diese Bergung nicht. Stimme dem bitte zu, Hans, anders kann ich nicht nach Wien zurückfahren“ (S.201), dann setzt er jenes Ich und Du verbindende, ja konstituierende Dritte wieder in Kraft, von dem die säkulare Moderne nichts mehr weiß. Damit wird Mander als postsäkularer Autor erkennbar, der sich in Tuchfühlung mit aktuellen philosophischen Strömungen lesen lässt; etwa jener der „Gegenintentionalität“ (Jean-Luc Marion), in deren Zentrum das von „außen“ zukommende „Sinn-Ereignis“ steht oder des Dialogischen Denkens, deren zentrale Vertreter Ferdinand Ebner, Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy in ihrer eigentlichen Bedeutung erst gegenwärtig (neu) entdeckt werden. Beispielhaft wird dies deutlich, wenn Rosa bei ihrer letzten Begegnung zu Hans sagt: „Schau, jeden Tag könnte ein Ereignis eintreten. … Dann muss ich für diesen Einsatz frei sein, offen und bereit, auch innerlich, seelisch.“ (S.202) Auf diesem Weg weist uns Mander auf jenes paradoxe „Werde, der du bist“ hin, dass sich immer nur über einen (D)Umweg verwirklichen lässt. „Dein Zukommen auf mich“ – so Hans zu Rosa – „schenkte mir die Hoffnung, jener werden zu können, der ich sein möchte.“ (S.203)

Dadurch gelingt es ihm, die zentrale Unterscheidung zwischen dem Gefangenen der Liebe und dem Sklaven der Leidenschaft (Harry Frankfurt) ersichtlich zu machen. Das Ganze gipfelt schließlich in der konstruktiven Paradoxie: Verbundenheit durch Unerreichbar-Bleiben. Hans Zisser schreibt an Rosa Zweiner einen Brief, den er wie folgt beginnt: „Liebe Rosa! Ich muss Dir schreiben, Deinet- und meinetwegen -, aber ich kann das nur tun, wenn ganz sicher ist, dass Du diesen Brief nie erhältst“ (S.335). Der Inhalt dieses „Nicht-Briefes“ ist eigentlich nur mittels tonaler Analogien in „Worte“ zu fassen: etwa dem Sehnsuchtsgesang Altun Mara von Yanka Rupkina und setzt – sollte es sich dabei nicht um irrational-absurde Phantasien eines Vereinsamten handeln – die Dimension der Raum- und Zeitmächtigkeit voraus. Etwa wenn Hans Zisser darin an sein unerreichbar-entferntes reales Du schreibt, dass er spüre, „dass mein Dir gewidmeter guter Wille Dich auch dann trägt, wenn seine äußeren Zeichen nicht vor Deine Augen dringen.“ (S.335) Er denkt dabei insbesondere an seine sorgfältigen Handgriffe und ordentlichen Erledigungen seiner unbedeutenden Alltage. Ob Mander davon Kenntnis hat, dass die moderne Quantentheorie 1981 durch Alain Aspect und Kollegen erstmals das Phänomen der Raumzeitmächtigkeit mittels Verifizierung der Bell’schen Ungleichungen experimentell aufweisen konnte, ist mir nicht bekannt.

Kurzum: Die Holschuld macht deutlich: Matthias Mander ist – im Grunde – nicht nur Literat, sondern Arzt. Sein Schreiben von Romanen ist zugleich das Verschreiben von Medizinen,von „anthropologisch-medizinalen Zumutungen“. Insofern sind seine Werke zugleich Notfallapotheken zur Behandlung insbesondere jener Krankheit, die Kierkegaard als die „Krankheit zum Tode“ bezeichnet hat: die Verzweiflung.

Dabei tarnt er – zur besseren Verabfolgungsmöglichkeit des Therapeutikums – berichtete Wirklichkeit als Roman, um uns auf diesem Weg das so genannte „reale Leben“ als globales utilitaristisches Spielfeld ersichtlich zu machen.

In diesem Sinne ist Mander ein Spiel-“Verderber“, das heißt hier eben Unheil-Verhinderer; im Unterschied etwa zu Karl Kraus oder Thomas Bernhard, die auf diesem playground Heimrecht haben, weil sie zwar die Untaten der Vergangenheit bis in die Gegenwart strangulieren und die Untaten der Gegenwart bis in die Vorvergangenheit diagnostizieren, jedoch ohne die geöffneten Wunden zu versorgen.

Mander hat in dieser Manege bzw. Menagerie keinen Platz, weil er in seinen Werken die unangenehme Aufgabe übernommen hat, die eigentlichen Krankheitsursachen frei zu legen, hoffend, dass dadurch grundlegende Heilung geschehen könnte. Seine literarische Vorgehensweise ähnelt dabei der Maltechnik von Mark Rothko. Wie dieser gebraucht auch er eine aufwändige, höchst anspruchsvolle Technik. Mander legt und verknüpft – womöglich etwas zu „bilanztechnisch“ – hauchdünne Erzählschichten über- und miteinander, sodass auch die untersten und abseitigsten nach oben und vorne hin durchsichtig bleiben, und so das kaum Ausgesprochene, das nicht verbalisierbare Wort, aus der unsagbaren Tiefe aufstrahlt. Etwa wenn er mit seinen atemverleihenden Landschaftsschilderungen fast unmerklich mitteilt, dass das Wesen der Materie und der Natur nicht Widerstand sondern Entgegenkommen ist, oder. wenn er das Standhalten im scheinbar völlig Ergebnislosen als wertvolles Lebens-Ereignis vorstellt, als auswegweisende Zumutung, somit eigentlich als entscheidende Ermutigung.

Mit der Kennzeichnung „Pflichtlektüre“ sollte der Rezensent für gewöhnlich äußerst sparsam umgehen. Doch wenn einem deutschsprachigen Roman der vergangenen Jahre – neben Herta Müllers Atemschaukel – dieses Prädikat gebührt, dann Matthias Manders Holschuld.

 

Erich Hamberger