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Verleihung des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse – Laudatio

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Verleihung des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse

an Matthias MANDER

Laudatio

Der zu Ehrende heißt auf lateinisch reverendus. Sie, verehrter Herr Mander, sind also heute ein reverendus. Im Italienischen, wo sich die Form des Gerundivums erhalten hat, wird der Priester als ‚Reverendo’ angesprochen. Sie, verehrter Herr Mander, würden schon aufgrund dieser semantischen Abschattung aus dem Italienischen, eine solche, wenn auch nur anlassbezogene Anrede sofort von sich weisen

In unserem Orden, dem Orden des demütigen Franziskus, gibt es aber einen anderen Titel, und der heißt venerandus frater. Er gebührt den Laienbrüdern, also jenen Mitgliedern des Ordens, die wie Franziskus nicht Priester waren, und der jenes Wort enthält, in dem der poverello sein eigentliches Ideal ausdrückt: das frater, Bruder sein, über die Menschen hin bis zu allen Geschöpfen. Die Anrede für diese, die Existenzform des christlichen Laien einschließende, nicht selbst gewählte, sondern aufgetragene Weise des Miteinanders mögen Sie sich für dieses Mal gefallen lassen. Denn Sie werden heute für Ihr Werk geehrt, das der Lebenswelt im Zeitalter der Globalisierung die Sprache eines neuen Bruder-Seins, eines neuen Humanismus gegeben hat.

 

Menschsein in verzehrender Differenz:

Die Anthropologie des Erzählers Matthias Mander

 

Ein Werk verstehen heißt, „der Dynamik des Werkes, der Bewegung von dem, was es sagt, zu dem, worüber es etwas sagt, folgen.“ So einfach und so wahr können es nur Große sagen. In diesem Fall ist es Paul Ricoeur, der Philosoph der Interpretation (66). Das in der Tat soll der Interpret leisten, nämlich aus der Vielfalt des Erzählten die einheitsstiftende Absicht, aus der Fülle an Welt, die das Werk ausbreitet, seine Intention herausspüren. Von einem anderen großen Sprachdenker – ein Laudator muss seine Gewährsleute sorgfältig wählen – es ist Wilhelm von Humboldt, stammt das schöne Wort, ein Werk werde verstanden, „nur indem an einen gewagten Versuch [i. e. des Autors] ein neuer [i.e des Lesers bzw. Interpreten] sich anknüpft.“ (201) Gewagt ist in der Tat der Versuch, die Dynamik Ihres Werkes nachzuzeichnen. Aber derselbe W. v. Humboldt meinte auch, tröstlicherweise, es gebe keinen anderen Weg des „Anringens“ des Menschen an die Wahrheit als die „gesellige Mittheilung an Andere.“ (202). Dies möge sich nun ereignen: ein „Anringen“ an Ihr Werk, verehrter Herr Mander, in „geselliger Mitteilung“ an Sie, werte Familie, Freunde und Verehrer des Autors.

Dass der Mensch „ein Bürger zweier Welten“ ist, gehört zu den häufigsten Antworten auf jene Frage, die nach Kant, die wichtigste aller philosophischen Fragen ist, nämlich: „Was ist der Mensch?“ Ein Bürger zweier Welten, so lautete die Antwort bereits für den platonischen Sokrates: Wie Gefangene in einer Höhle, die vom Schein eines Feuers erleuchtet wird, sagt er, leben die Menschen, sie wissen noch nichts von Sonne und Licht in der wirklichen Welt außerhalb. Sie begnügen sich mit den Schattenbildern in der Höhle und ihren Deutungen. Die Höhle ist das Reich, wo die Meinung herrscht statt der Wahrheit, die Unfreiheit statt der Freiheit. Und so sind die Menschen dort eigentlich nur potentielle Bewohner der zweiten, wirklichen und wahren Welt, zu der sie erst gelangen können, wenn einer hinausgebracht wurde und die Welt draußen gesehen hat und ihre Schönheit im Lichte der alles überstrahlenden Sonne schauen konnte. Und wenn ein solcher, von der Freude darüber bewegt, wieder zu ihnen hinabsteigt, um ihnen den Ausgang zu zeigen. Freilich müsse man damit rechnen – und hier spricht der platonische Sokrates bereits im Rückblick auf sein gewaltsames Ende – dass einem solchen dann nicht geglaubt wird, ja dass man ihn sogar töten wird, weil die „Höhlenmenschen“ lieber bei der Beschäftigung mit den vertrauten Schattenbildern bleiben und sich nicht auf ein unbekanntes Glück einlassen werden.

 

Der Ort der Differenz

Auf einem dieser beiden Wege, hinaus aus der Höhle oder zurück zu den Menschen, befinden sich auch die Gestalten des Erzählers Matthias Mander. Sie sind „Bürger zweier Welten“: In der einen beglückt durch die Schau eines Reiches der Schönheit, Gerechtigkeit und des Friedens, des Lichtes und der Liebe. Zugleich sind sie ihren „Brüdern und Schwestern“, wie die Christen sagen, den Menschen in der Höhle, die in den tenebrae vitae socialis, wie sich der Kirchenvater Augustinus in deutlicher Anspielung auf Platon ausdrückte, gefangen sind, von Herzen zugetan. Darum ist jeder Moment der Beglückung in der wahren Welt für sie gleichsam wie ein neuer Auftrag zur Rückkehr in die Höhle. Es ist ihnen klar, man empfängt nichts, um es für sich zu behalten, sondern um es weiter zu geben. Das macht ihr Leben glücklich und unglücklich zugleich. Sie wissen, jede Beglückung wird sich für sie, wegen der darin enthaltenen Sendung in die Höhlenwelt, in eine existenzielle Prüfung verwandeln, in Einsamkeit, Außenseitertum, Verleumdung, Ausgenützt-Werden, ja wird vielleicht zu todbringender Anfeindung führen.

Die konkret-geschichtliche Verortung dieser Spannung erfolgt – mit einer Ausnahme, dem Frauenroman „Cilia“ – in der Welt von Industrie und Technik im Zeitalter der Globalisierung. Es geht immer wieder um Planung, Produktion, Absatz, kybernetische Modelle, betriebswirtschaftliche Kalkulation und ökologische Folgekosten. Diese Welt beruht auf einer differenzierten Arbeitsteilung, die dem Menschen zugleich einen präzisen Anteil am Gelingen des Ganzen zuweist. „Die Leistung eines Unternehmens [erwächst] aus charakterlichen, ja moralischen Anlagen, verbunden mit Fachwissen.“ („Kasuar“, 387). Das Technische schließt das Menschliche nicht aus, im Gegenteil: in ihrem Miteinander wird Zukunft für viele geschaffen. „Bekenntnis zu industrieller Produktionsweise, wieviel Hunger hat sie schon gestillt, Freiheit sie schon gebracht hat, redliche Belohnung schwieriger Lernprozesse, schmerzhafte Selbstveränderungen., Dankgefühl für ermöglichte Bewährung an dieser Aufgabe.“ („Kasuar“, 314 f.) Solche Redlichkeit bildet die Basis des sozialen Friedens und des Wohlstands. Hier liegt aber nun auch der Einsatzpunkt für das malum, für die Versuchung des Bösen: so zu tun, als bräuchte es dazu nicht die ständige Wachheit der Planer und immer wieder die selbstlose Verfügbarkeit der Ausführenden. Man gaukelt den Menschen die Aussicht auf raschen Gewinn vor, die Möglichkeit, durch kurzfristige Vorteile, durch geschickte Täuschung auf dem Markt große Erfolge zu erzielen. In der Verbindung mit der Politik und den Medien gelingt es der Unwahrheit, sich den Schein der Wahrheit geben.

Darum stoßen bei den Mächtigen der Höhle die Versuche zur „Aufklärung“ dieser Irrtümer auf taube Ohren, die Vorschläge der Weitsichtigen werden ausgelacht oder niedergestimmt, sie erleben Gleichgültigkeit und Ausgrenzung. Sie brechen zusammen unter physischer Erschöpfung, oder ziehen sich eine tödliche Krankheit zu (so Rausak im „Kasuar); sie werden Opfer von Anschlägen (Arlet und Vorhofer im „Sog“, Benedikter in „Garanas“, Bankdirektor Siegl in den „Wüstungen“). Aber es gibt auch jene, die sich der versäumten Verantwortung bewusst werden und wieder in die Höhle zurückkehren (Zwigott in den „Wüstungen“), oder jene, die (wie Vorhofer im „Sog“) bereits vom Tod gezeichnet, noch zur Lichtwelt aufsteigen. Stellvertretend für sie alle soll der Prokurist Rausak aus dem „Kasuar zu Wort kommen, der auf sein Leben zurückblickt: „Mit dem Tod kommt endlich Symmetrie: eurem Wahn entspricht meine Qual, eurer Mordlust mein Bluten, eurem Hass mein Krebs – alles gleicht sich glatt aus.“ („Kasuar“, 418)

Bürger zweier Welten sind sie wahrhaft, die Helden von Matthias Mander. Die Differenz der beiden Welten zu erleiden ist ihr Schicksal. Es ist eine verzehrende Differenz im doppelten Sinn: Befinden sie sich in der Lichtwelt, erleben sie – um es in einem biblischen Vergleich zu sagen – wie die Apostel auf dem Berg der Verklärung die hinreißende Wahrheit des Schönen und Guten; sie werden aber zugleich verzehrt beim Gedanken daran, dass so viele Menschen aus mangelnder Einsicht in die Irre geführt werden und sich in immer größere Verhängnisse verstricken. Wo sie helfen wollen, werden sie verzehrt von den Widerwärtigkeiten, die man ihnen bereitet. Aus der Lichtwelt stammt ihre Erfahrung von Wahrheit und Schönheit; aus der Höhle stammt ihr Bescheid-Wissen um Verführung, Elend und Unglück ihrer Bewohner, um ihre Sehnsucht nach Licht trotz allen Widerstrebens. Lichtwelt und Höhle befinden sich bei Mander – überflüssig darauf hinzuweisen – nicht an getrennten Orten, sie bilden keine voneinander getrennten Welten. Sie sind koextensiv mit der Lebenswelt der handelnden Personen. Der eigentliche Ort dieser Differenz ist das Herz.

 

Die Lichtwelt

Die Erfahrung der Schönheit – das ist bei Mander immer wieder die hinreißende Schau der Natur. Aus Landschaft, Baum- und Tierwelt, aus Wetter, Schnee- und Wasserwelt bricht eine Kraft, ein Licht hervor, das die Aufmerksamen eintaucht in die Fülle des Seins. „Man darf nichts beschönigen; aber wie übersteht man den Einbruch des Schönen?“ heißt es einmal im „Sog“ (211). Entgegen Rilkes berühmtem Wort in der ersten seiner „Duineser Elegien“ (Mander nennt sie „höchste Dichtkunst seiner und aller Zeit“, „Sog“ 162) – : „Denn das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen“ – ist das Schöne für Mander immer bergende Fülle, Vermittlung und Verheißung von Sinn. Diese Erfahrung hat, man ahnt es, ihre Voraussetzung in einem christlichen Urvertrauen in die Gutheit aller Dinge, die vom Schöpfer in sie gelegt wurde. Daraus gewinnen Manders Gestalten, so wie Cilia, „ein Geöffnetsein, das durch keinen Rückschlag, keine Enttäuschung, keinen Schmerz zu verschließen ist. Stets neu wendet sich – wenngleich verwundet – die Fromme wieder den Wundern dieser Erde, dem Wunder der menschlichen Seele zu.“ („Cilia“, 140).

Im selben Roman heißt es, etwas später, und ausführlicher:

Von ihrer (i.e. Cilias) Unfähigkeit, die verzaubernden Anblicke zu verdrängen: in der Abendsonne leuchtende Bergabbrüche, Hochwaldwände, ausapernde Lichtungen, stark austreibende Sträucher, Sonnenaufgänge, der Zug dieser Lichtquelle über den Himmel, Schattenspiele zwischen Baumstämmen, Hofgiebeln, Erschlaffen der Tage, lang in den Schluchten hängende Abende, in Felswände gemeißelte Nächte, schier unendliches Wechselspiel, Tanzspiel von Feuer, Wasser, Stein, Eisen, Wurzelung, Tränkung, Zerspanung, Moderung, Windbruch, Mahlen der Winde in den Schliffen der Gerinne, in den Auskolkungen… es soll ihr genügen, nur einmal das Auge zu sein, diesen Lauf als Wunder zu erfassen.“ (ebd. 308f.)

Diese Schau ist ihrem Wesen nach nicht darauf angelegt, dass ein Mensch sie einsam konsumiere, im Gegenteil: schon in der Wahrnehmung blickt der Beschenkte voraus, wie er andere daran teilhaben lassen könnte. „Die abtauenden Fichtenäste werfen ihre Schneelast unter blubberndem Schmelzen ab, schnellen hoch, stoßen die oberen Zweige an, die sich auch befreien. Die Bäume tanzen vor Freude, weil sie von so schwerer Last befreit sind, wird Cilia in drei Jahren ihrem Kind vor solchem Schauspiel zurufen.“ (Ebd. 330).

Wie leidgeprüft Manders Helden auch sind, die Schönheit der Schöpfung kommt ihnen nicht abhanden, noch weniger wollen sie sich diese Erfahrung von anderen ausreden lassen. Rausak nimmt sich vor: „Glücksgefühle beschreiben und begründen und gegen den Vorwurf der Einfalt sichern.“ („Kasuar“, 305) Das Schöne ist der Speicher, aus dem die guten Menschen ihr Gutsein nähren. Für Manders Helden gilt, was Ludwig Wittgenstein im „Trac-tatus logico-philosophicus“ unter Nummer 6.421 in kühner Verknappung postuliert: „Ethik und Aesthetik sind Eins.“

 

Nicht minder bedeutsam ist aber die Schönheit, oder sagen wir es jetzt lieber mit einem biblischen Begriff: die „Herrlichkeit“, die aus dem Beispiel der guten Menschen in Familie und Umgebung in das Leben von Manders Gestalten leuchtet. Immer wieder drängt ihr Bild ins Bewusstsein, gerade in den Momenten der Erschöpfung, in der Versuchung des Aufgeben-Wollens. Wie die Wehrsteine die Straße gegen den Abgrund sichern, so schützen die Beispiele der guten Menschen den in seiner Sorge um die Höhlenmenschen aufs äußerste geforderten Helfer vor dem Absturz in die Verzweiflung. Manders Helden sind keine Kraftprotze, keine stoischen Alles-Dulder, keine steilen Weltverbesserer, schon gar nicht fanatische Ideologen: sie sind empfindlich und verletzbar, kennen z. B. die „Versuchung zur Unversöhnlichkeit“ („Kasuar“, 95). Gerade deshalb könnten sie nicht bestehen, ihre Humanität nicht retten ohne – und jetzt ist es Zeit, zwei wichtige Begriffe von Manders Erzähltechnik zu nennen, von denen später noch die Rede sein soll – ohne die „Listen“ (im „Kasuar“) oder „Litaneien“ (in „Garanas“) der mutmachenden Exempel:

„Vater hätte im Bahnhof von Halle fast einen Feldwebel erschlagen, der ihm verbieten wollte, gefangenen, vor Durst schreienden Russen Wasser zu bringen. Großvater ging täglich im Morgengrauen betend um den Hof. Onkel Anton kam von Ordinariatsbesuchen aus Graz hemdsärmelig und barfuss zurück, er hatte unterwegs Rock und Schuhe verschenkt.“ („Kasuar“, 34)

 

Die Beispiele werden aber nicht nur aus dem unmittelbaren Lebensumkreis der Gestalten geholt. Der Autor spielt ihnen zusätzlich noch so etwas wie „Dokumentaraufnahmen“ aus der Geschichte zu, deren Strukturähnlichkeit mit ihren eigenen Erfahrungen den Gestalten hilft, ihr Schicksal zu bestehen. So ist ausführlicher die Rede u. a. vom klugen und entschlussfreudigen Bauernbefreier Hans Kudlich im Revolutionsjahr 1848 („Wüstungen“), vom russischen Sozialreformer Ministerpräsident Stolypin, der 1911 zum Opfer eines bolschewistischen Attentats wird („Sog“), vom Retter der Wöchnerinnen, Ignaz Semmelweis, dem Opfer von Kollegenneid und Ignoranz („Cilia“). Sie alle müssen gegen uneinsichtigen Widerstand kämpfen, jeder auf seine Weise, manchmal bis hin zum Opfer des eigenen Lebens.

Auch und gerade im Scheitern des guten Menschen kann das Schöne, die „Herrlichkeit“ seiner Größe aufleuchten. Das war schon die Erkenntnis der griechischen Tragödie (vgl. die „Antigone“ des Sophokles). Im Kreuz von Golgotha wurde sie zur Wahrheit des Lebens erhöht. In ihrer Ausstrahlung stehen auch diese Beispiel-Menschen, die den Gestalten Manders nicht bloß Mut für den eigenen Kampf vermitteln, sondern sie gelegentlich auch an die eigenen besseren Möglichkeiten zu erinnern (vgl. „Sog“). Und sie helfen auch zur Selbstvergewisserung darüber, ob sich in den eigenen Einsatz nicht irgendwo ein rechthaberischer, die eigene Bestätigung suchender Fanatismus eingenistet hat.

Da und dort eingestreut gewährt Mander Einblick in die innerste Kraftquelle seiner guten Menschen. Es ist ihr Glaube und die aus ihm erwachsende Perspektive göttlich geschenkter Heilung und Vollendung aller Dinge. Er gibt auch die Kraft zur Versöhnung inmitten aller Auseinandersetzungen: „Das Böse wird nicht durch Systeme, sondern durch Sakramente überwunden.“ („Kasuar“, 408).

 

Die Höhlenwelt

Die Menschen in der Höhle, in den tenebrae vitae socialis – der Begriff des Augustinus sei noch einmal in Erinnerung gerufen – zerfallen in zwei Kategorien: in die Verursacher und in die Opfer des Unheils. Verursacher sind jene, die gegen besseres Wissen die Menschen verführen mit kurzfristigen Versprechungen; die Mächtigen, die zur Erhaltung zur Macht die Wahrheit verschweigen und jene, die sie verkünden, mundtot machen; alle jene, die nichts anderes im Sinn haben als ihre Selbstdurchsetzung auf Kosten anderer ( „künstliche Selbsterhöhung durch unzutreffende Fremdabwertung“, „Sog“ 227); die Großsprecher, die den Vorteil und den leichten Profit zum alleinigen Kriterium der praktischen Vernunft erheben. Unter solchen Vorzeichen kann man z.B. eine Vielzahl von Entlassungen als „Sanierung“ anpreisen, oder dafür sorgen, dass Grundfragen nach ökologischer oder entwicklungspolitischer Verantwortung „nicht aufgeworfen werden“ („Wüstungen“, 252). Einer sagt es gerade heraus: „Es gibt eben nur eine Betriebsgewinnrechnung. Eine Gesellschaftsgewinnrechnung gibt es nicht. Ende der Fahnenstange, lieber Freund.“ („Garanas“, 254). Wir ahnen, es geht um jene, die verantwortlich sind oder mitwirken an den „Strukturen der Sünde“, wie die Enzyklika Sollicitudo rei socialis sagt (Nr. 36 – 38). Augustinus nannte eine Herrschaft dieser Art die civitas terrena, und ihren innersten Antrieb sah er im amor sui usque ad contemptum Dei.

Manders Sprache verwendet zu ihrer Darstellung sowohl die Register visionärer apokalyptischer Schau wie präziser fachtechnischer Begrifflichkeit: „Beschreibung der satanischen Gehirne: In der Schädelkapsel eine einzige wirbelnde, brodelnde, dauerhämmernde Blähung des Stolzes!….’Ich befehle. Ich beherrsche. Ich lasse mir huldigen. Ich lasse mich kitzeln. Ich begatte. Ich lasse mich anbeten. Ich bin Gott“ („Garanas“, 257). In das Alltagsleben dringt das ausgeheckte Böse ein in Gestalt von „heuchlerischen Prospekten, Fallstrick-Verträgen, listigen Vereinbarungen, tückischen Bekanntmachungen, hintersinnigen Ankündigungen, täuschenden Präambeln, … in versteckten kleingedruckten Verkaufsbedingungen,… mit betrügerischen Bilanzerläuterungen, zynischen Vermögensgarantien, erlogenen Inventarkommentaren, haltlosen Pensionszusagen, …. alle hinterfüttert mit dem grinsenden Vorbehalt: am Fälligkeitstag nur dann zu gelten, wenn die Verfasser darin dann ihren Vorteil sehen sollten…“ („Garanas“, 257 f.).

Wenn auch das Vokabular des Bösen der aktuellen Wirtschaftskriminalität entstammt – was dahinter steht, ist nicht neu: Es ist ein anthropologischer Pessimismus, der vom Menschen, weder von sich selbst noch von anderen, etwas Gutes erwartet. Die Zyniker von Macht und Vorteil, die ihm anhängen, würden sicherlich jener verbreiteten Anschauung Recht geben, die Glaukon, der Bruder Platons, in der Politeia referiert:

 

Nehmen wir an, es gäbe solche Ringe [i.e. wie Gyges einen hatte, der ihm Unsichtbarkeit verlieh], und dass den einen der Gerechte sich ansteckte, den andern der Ungerechte, so wäre, wie mir scheint, wohl keiner von so eherner Festigkeit, daß er bei der Gerechtigkeit bliebe und es über sich brächte, sich fremden Gutes zu enthalten und es nicht zu berühren. Denn er dürfte ohne Scheu sogar vom Markte weg nehmen, was er wollte, und in die Häuser hineingehen und beiwohnen, wem er wollte, und morden und aus dem Gefängnis befreien, wen er wollte, und überhaupt handeln wie ein Gott unter den Menschen…. [Es würde wohl niemand freiwillig gerecht sein.], sondern … wenn einer die Möglichkeit hat, Unrecht zu tun, so tut er’s. Jedermann meint nämlich, daß die Ungerechtigkeit für den Einzelnen weit vorteilhafter sei als die Gerechtigkeit.“ (Platon: Der Staat, S. 72. Digitale Bibliothek Band 2, Philosophie, S. 1267. Übersetzung da und dort flüssiger gestaltet)

 

[Kann man nicht verwundert sein über die bis ins einzelne gehende Übereinstimmung zwischen dieser Platonstelle und dem Mander-Text vorhin?] Hier haben wir ihn, den verbreiteten Zynismus, dass jede Tugend letzten Endes eine Frage der äußeren Kontrolle ist, dass die Menschen im Grunde nur ihren Trieben und Neigungen folgen, und dass sie es immer tun, wenn sie von Sanktionen nicht abgeschreckt werden. Moral ist bloße Dressur, sagt der Zynismus, und wer es sich leisten kann, setzt sich über sie hinweg. Manders Sorge ist immer wieder die Politik. Kann sie sich frei halten vom raschen Vorteil durch Verschweigen und Täuschung? Immer wieder kommt es vor, dass ein Politiker „nur geschickt dosierte und adressierte Aggressionsimpulse auslöst“, aber dabei „Tausende arglose Charaktere“ verstümmelt und den „Moralbedarf der Menschen glatt unbefriedigt lässt“ („Kasuar“, 269).

Es ist schon angeklungen: Die Opfer des Zynismus sind die einfachen Menschen, die zu benennen, Mander nicht müde wird. In all seinen Romanen gibt es sie, die „Mühseligen und Beladenen“ , die „Kleinen“ des Evangeliums, von denen es heisst, wer eines von ihnen zum Bösen verführt, für den ist es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im Meer versenkt würde (Mt, 18, 6). Mander will sie alle aufzählen, ihre Namen, Berufe, ihre Krankheiten, ihre Unglücksfälle, ihre Opferbereitschaft, ihr Abdriften ins Böse, ihre Geduld trotz ihres Ausgenützt-Werdens, ihre Wahnsinnsattacken und ihr stilles Durchhalten, ihren Humor und ihre Dankbarkeit.

Was diese Kleinen wirklich leiden, das hat niemand besser gesagt als Simone Weil, die in ihrer Zeit als Fabrikarbeiterin 1934/45 ein Tagebuch führte, um ihre Erfahrungen von Verdinglichung und Entmenschlichung festzuhalten. Zu den Wirkungen des Unglücks gehört, schreibt sie, „dass es die Seele nach und nach zu seinem Mithelfer macht, indem sie ihr ein Gift der Trägheit einspritzt. Jeder, der lange genug unglücklich war, handelt wie in heimlichem Einverständnis mit seinem eigenen Unglück.“ (ZfG 14) Darum suchen die Armen zuletzt nur jemand, der ihr Unglück sieht, oder sagen wir besser, realisiert. Die Arbeiter-Philoso-phin fasst das folgendermaßen zusammen: „Die Unglücklichen bedürfen keines anderen Dinges in dieser Welt als solcher Menschen, die fähig sind, ihnen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden“ (ZfG, 18).

Die Listen und Litaneien Manders sind die literarische Einlösung der Hoffnung jener „Kleinen“, dass jemand ihnen diese Aufmerksamkeit zuteil werden lässt. Lassen wir kurz die , so möchte ich sie nennen, nüchterne Weihe dieser Litaneien auf uns wirken: „Frau Kulz, verheiratete Feger, ‚Zeugin Jehovas’ mit beträchtlicher Redegabe. – Herr Schirza mit der dunklen, leisen Stimme, lebenslänglich beleidigt als einst borniert-kultivierter Nazi, vom Reichsmythos verblendet. – Herr Serdinschek, Korrosionsschutzkalkulant und eifriger Weltinterpret.- Fräulein Starchl, die hektische Sekretärin von Vorstand Dr. Brenda, die mir gegenüber eines Abends in Tränen ausgebrochen war, weil sie eigentlich eine schmale, gefasste Frau sein wollte, nicht ein derart schwellendes Weib, wie sie es tatsächlich war. – Fritz Scheucher, dessen Dienstfahrt mit einem Frontalzusammenstoß und Kopfverletzungen endete, war seither ein verbitterter Kritiker. – Ludmilla Tanzmeister bestreute allmorgendlich die Straße vom Bahnhof zur Fabrik in Gratkorn mit Taubenfutter.“ („Garanas“ 87 f.)

Die „Litaneien“ breiten einen Mantel solidarischer Anteilnahme um das Schicksal der der Betrogenen, Verzweifelten, Wahnsinnigen, Prostituierten, Kindsmörderinnen, um das beschädigte Leben so vieler. So bilden diese Aufzählungen einen literarischen Protest gegen eine Denkweise, die, von den Ideologien bis zu Wirtschaftswelt und Politik, Menschen berechenbar machen, sie auf einen Begriff bringen möchte: „Kein einziger seiner alten und neuen Freunde wäre in Raum und Zeit voll beschreibbar: Somit ist jeder ein Ebenbildstrich Gottes“ (ebd., 336). Man möchte sogar sagen, die Aufzählungen haben auch etwas Literaturkritisches an sich: Sie wirken wie das Eingeständnis, dass Literatur die Menschenwelt verfehlt, wenn sie nur auserwählte Einzelne in den Mittelpunkt stellt und die vielen übersieht, deren im besten Sinn bescheidene Existenz die Basis für alles „Große“ darstellt. „Litanei heißt Synthetisierungsverzicht, nicht Syntheseverweigerung, nicht Aggression, nur Eingeständnis, dass Syntheseansätze als Ordnungsmuster willkürlich sind“ (ebd., 331).

 

 

Das verbindende Wort

 

Manders literarisches Schaffen steht monolithisch in der literarischen Landschaft. Thematik, Wortschatz, Syntax, Komposition sind – die kurzen Beispiele haben es gezeigt – etwas sehr Eigenständiges. Das Innovative dieses Erzählens tritt immer wieder aufs neue hervor. Die Form des auktorialen Erzählens lässt Mander ebenso hinter sich wie die Technik des Bewusstseinsstroms, obwohl er sich beider durchaus zu bedienen weiß. Er teilt die Erzählhaltung in Ich- und Er-Perspektive („Kasuar“), verdoppelt die Hauptperson, indem er sie, unter neuem Namen, zugleich zu ihrem eigenen Erzähler macht (Zisser/Benedikter in „Garanas“). In das Geschehen rund um die Hauptperson montiert er in assoziativer Fügung wirtschaftsbezogene Informationen, verklammert er geschichtliche Episoden, biographische Parallelen aus dem Schicksal von Künstlern und Wissenschaftern, mischt er statistische Daten, Tagesmeldungen aus Radio oder Zeitung, sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse hineinein. Manders Romane quellen über von Wirklichkeit. Mit dieser neuartigen Textur befindet sich Mander zugleich in der Traditionslinie des modernen Romans, dessen Erzähler in einer grundsätzlichen „Paradoxie“ steht, wie Th. W. Adorno scharfsinnig formuliert hat. „Es lässt sich nicht mehr erzählen, während die spezifische Form des Romans Erzählung verlangt.“ (129). So führt das Schreiben eines Romans jedes Mal, man möchte sagen fast zwangsläufig, zum Zerbrechen seiner traditionellen Formgestalt, damit er das sein kann, was er seinem Wesen nach ist: ein Bild der Welt. Nicht anders ist es bei Mander.

Dem formalen Experiment entspricht auch die Sprache. Sie ist erfüllt von einer Leidenschaft des Benennens, von der man nachgerade sagen möchte, dass sie dem Autor manch-mal sogar „durchgeht“. Wo gibt es das sonst: „gelbrundumschnalzende Blinklichter“, die „graubraunen, quadratlöchrigen Steilwände Wiens“, „Vogelgruppen, zirpend, balgend in kugeligen Bögen wieder aus der Baumkrone aufwärtsprasselnd“ („Sog“). Immer wieder bricht des Autors Lust am Substantiv, an begrifflicher Erfassung durch, und seine wissenschaftliche Begriffsfreude scheint phasenweise das Verb, das Grundwort des Erzählens, verdrängen zu wollen.

Eine Prosa, die die „Höhe ihres eigentlichen Wesens“ erreicht, schreibt der eingangs erwähnte Wilhelm von Humboldt, „verlangt alsdann das Umfassen ihres Gegenstandes mit allen vereinten Kräften des Gemüths, woraus zugleich eine Behandlung entsteht, welche denselben [i.e. den Gegenstand] nach allen Seiten Strahlen aussendend zeigt.“ (185) Das tut sie wahrhaft, Ihre Sprache, Herr Mander: Was sie behandelt, das sendet nach allen Seiten hin Strahlen aus. Und auch meinen zweiten Gewährsmann, Paul Ricoeur, möchte ich an dieser Stelle zu Wort kommen lassen: Wahrhaft in esprit de finesse unterscheidet er einmal zwischen der poétique de l’amour und der prose de la justice. (LuG, 33). Herr Mander, Ihre Sprache hält immer beide Enden fest. Sie weiß um das Mühsame („die Prosa“) bei der Herstellung von Gerechtigkeit; aber sie schwingt sich immer wieder auf zur „Poesie“ eines liebenden Herzens.

Es ist eine Sprache, die anteilnehmend sich den beklagenswertesten Schicksalen zuneigt; die aber auch, wie das Schwert des Erzengels Michael, den Mächten der Verführung und des bornierten Größenwahns die Wahrheit fürchten lehrt; eine Sprache, die sich ihren Weg frei machen musste, so wie das „holländische Baggerschiff die eigene Fahrrinne vor sich ins Deichland gräbt“ („Kasuar“ 329) – um noch einmal eines Ihrer unübertrefflichen Bildworte zu gebrauchen. Mit Hilfe Ihres Wortes, Herr Mander, haben Sie den Weg aus der Höhle des Scheins und der Lüge immer wieder frei gemacht, frei „gewortet“, möchte man sagen, damit jene, die das Dunkel verwirrt, den Lichtschein des Ausgangs aufleuchten sehen.

Demütig unter den Leidenden, unbeugsam gegenüber dem Schein, trat Ihr Wort in die Spuren jenes Wortes, das Fleisch wurde, in der Finsternis leuchtete, „unter lautem Schreien und Tränen“ Bittrufe zum Himmel richtete (Hebr 5, 7), und in seiner Himmelfahrt für immer zur festen Zuflucht jener wurde, die nach seinem Beispiel in der Differenz der Welten ausharren. (Einer von ihnen, der die Differenz schließlich nicht mehr ertragen konnte, Paul Celan, auch er sprach von dieser Hoffnung auf Gottes „höchstes, umröcheltes, / sein haderndes Wort.“ [Zürich. Zum Storchen]). In der Spur dieses Wortes konnten Sie selbst einmal bekennen: „Der Himmel wäre überhaupt nur Himmel aus tränenverschleierten Augen gesehen; mit der angsterstickten Stimme dieser rätselhaften, leidvollen Erde besungen, beklagt, belobt, mit unvollkommenen Gleichnissen beschrieben; mit immer neuen Heiligenschicksalen berannt… („Sog“).

Ich danke Ihnen.

 

 

P. Willibald Hopfgartner OFM

 

Bozen, 23. 10.2002; im Kalender Fest des hl. Johannes von Capestrano, Gründer der Österreichischen Franziskanerprovinz.

 

 

Literaturverzeichnis:

 

A. Die Werke von Matthias Mander

 

  • Der Kasuar. 1979
  • Das Tuch der Geiger.1980
  • Wüstungen. 1985
  • Der Sog. 1989
  • Cilia oder Der Irrgast. 1993 (Alle bei Styria)
  • Garanas oder Die Litanei. 2001 (Czernin)

 

B. Begleitende Lektüre:

 

Wilhelm von Humboldt: Über die Sprache. Reden vor der Akademie. Herausgegeben, kom-

mentiert und mit einem Nachwort versehen von Jürgen Trabant. (UTB) 1994

 

Simone Weil: Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen. Olten 1979.

 

Paul Ricoeur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart (Reihe Literaturstudium) Stuttgart (Reclam) 1996, 56 – 70.

 

Derselbe: Liebe und Gerechtigkeit. Amour et justice. Mit einer deutschen Parallelübersetzung von Matthias Raden Hg. von Oswald Bayer. Tübingen 1990

 

Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Texte zur Literaturtheorie...(wie oben), 129 – 136

 

Johannes Paul II.: Enzyklika Sollicitudo rei socialis.1988