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Zu Zdenka Beckers Romanopus „Die Töchter der Róza Bukovská“

Lesezeit: ungefähr 3 Minuten.

„Die Gedanken spalteten sich auf der Zunge.“ (S.390)

 

Dass Widerstand umso stärkere Zuwendung – damit ein gesteigertes Ergebnis – bewirken kann, erweist sich auch im Werk der in der Slowakei geborenen und ausgebildeten, deutsch schreibenden Autorin Zdenka Becker: Ihr gespaltenes, vervielfachtes Denken aus der Mehrsprachigkeit erbringt dicht gefügtes, reich strahlendes, literarisch besonders überzeugendes deutsches Schreiben.

 

Ich muss weit zurückdenken, eigentlich wohl ein halbes Jahrhundert, um einen ähnlichen, tagelang anhaltenden und dann bleibenden Leseeindruck in meiner Erinnerung wiederzufinden, wie den soeben genossenen in der Lektüre des kürzlich erschienenen Romans von Zdenka Becker „Die Töchter der Róza Bukovská“. Denn ich habe nicht

e i n e n Roman gelesen, sondern wohl zehn, nein, ich habe eine durch und durch vollständige und wahrhaftige Beschreibung und Deutung der Welt geschenkt erhalten: Die ganze Welt dreier Erwachsenengenerationen in der Slowakei des 20. Jahrhunderts. Und das will etwas heißen! Die breite westslawische Lebens- und Bewußtseinswelt mit Ausästelungen in die USA (Chikago-Cedar Rapids) und nach Österreich (Traiskirchen) während der am meisten verunsicherten und gewalttätigen Geschichtsepoche überhaupt; die individuelle, also die wirklich trotz der vielen Namen namenlos erlittene Welt nämlich. Alle erinnerten Menschen, objektiv selbstverständlich auch Opfer, werden von der kraftvollen Erzählerin auch mit deren subjektiven Fehlhaltungen schmerzhaft genau durchgezeichnet.

 

Abgesehen von der überzeugenden und überwältigenden Fülle intimer, familiärer, charakterlicher, politischer, ökonomischer sowie der Lebens-, Liebes-, Wohn-, Geld-, Beziehungs-, Religions- und Ideologieverhältnisse, die in diesem Werk gemäß höchstem literarischen Anspruch dargestellt werden, ist die der Zdenka Becker eigentümliche Rasanz des Berichtens als singulär hervorzuheben. Ein beiläufig auftauchender Name erweist sich schon im nächsten Abschnitt als schicksalhaft, eine scheinbar nebensächliche Begegnung wird zur frappierenden Hauptsache. Jahre und Jahrzehnte rasen in atemberaubendem Zoom perfekter Detailerfassung dramatischer Szenen so ab, dass dem immer gebannten, oft erschütterten Leser sowohl höchste Aufmerksamkeit wie höchster Erkenntnisgenuss zukommen. Einzelne sympathische Sprachauffälligkeiten erhöhen noch den stilistischen Reiz.

 

Dieses Buch konnte nur eine Autorin mit dem Schicksal Zdenka Beckers verfassen. Und sie hat damit in unserer (literarischen) Welt einen neuen Wahrnehmungsvulkan aufgebrochen.

 

Die Wörter „Unbehaustheit, Geworfenheit, existentielle Tragik, Gattungsverhängnis, Opfergang eines Volkes, bittere condition humaine, Frauenleid…“ wird man auf diesen 411 Buchseiten Zdenka Beckers nicht finden, wohl aber das erzählerisch dichte, sinnliche, sinnfällig belegte Zeugnis hiefür.

 

In meiner Jugend habe ich gelernt, ein Roman müsse ein Jahrhundert beschreiben; und in meiner Jugend habe ich mich in die geschilderten Menschenschicksale so vertieft, dass mir auf den letzten Seiten des Buchs vor Abschiedsschmerz die Tränen kamen. Nun, geweint habe ich diesmal zwar (gerade) nicht – obwohl mir die neuen Gestalten als ebenso eindringlich die wahrhaftig nahegehen, wie einst die Protagonisten der Romanklassiker – sondern, weil ich dieses Buchexemplar ja behalten, seinen Inhalt künftighin meinem Weltbild zuzählen darf, und vor allem aus folgendem Grund:

 

Längst ist erkannt, dass alle Kultur das Stillen des Sinn- und

Gemeinschaftsbedürfnisses sucht. Auf der Bandbreite der diesem Ziel gewidmeten Unternehmungen – zwischen höchstrangig, qualifiziert, legitim bis abwegig, destruktiv, illegitim – ist die Kunst des Romanschreibens, die Leistung, einen stellvertretenden Weltauschnitt lebendig, groß und tief zu erzählen, gewiß unter die höchsten Wertstiftungen, Sinn-Bildungen zu zählen. Jene Stunden, zu denen man sich voll in Stoff und Gestalt eines Romans wie Zdenka Beckers „Die Töchter der Róza Bukovská“ versenken darf, weil kein falsches Wort das Vertrauen verletzt, weil jeder weitere Satz Gewicht und Geltung dieses Weltwahrnehmens steigert, gehören schließlich zu den glücklichsten Stunden des Lesenden überhaupt. Jene Stunden nämlich, auf die hin sein Streben angelegt ist: Endliches Verstummen der sonst unablässigen Sinnfrage, Eintreten in die voll gesehene und erfasste weil erspürte Wahrheit. Und das vermag nur die Dichtung, keine andere Disziplin. Und so, wie in diesem opus magnum, kann es nur eine Frau. Besser kann es nicht sein.

 

Matthias Mander

 

 

Zdenka Becker „Die Töchter der Róza Bukovská“, Roman, 411 Seiten,

Residenz Verlag 2006, ISBN-10 3-7017-1459-2; ISBN-13 978-3-7017-1459-9

EUR 21,90