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Gerald Szyszkowitz Laudatio

Lesezeit: ungefähr 8 Minuten.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Im Herbst 2004 veranstaltete ich im Schloß Seyring bei Wien ein mehrtägiges Literatursymposium mit 28 Autorinnen und Autoren. Die Vorträge und Lesungen boten eindrucksvolle Beispiele dichterischen Könnens. Aber ein Auftritt bleibt unvergesslich: Jener von Gerald Szyszkowitz unter dem Titel „Schauen und Schreiben“. Denn als er zu dessen Abschluss die Uraufführung seines damals eben in der Freien Bühne Wieden laufenden Theaterstücks „Schubert“ bewarb, schilderte er uns Zuhörern das Schicksal dieses armen, leidenden, todtraurigen Komponisten himmlischer Musik so hingebungsvoll, dass ihm mitten in der Rede die Stimme brach und Tränen seine Augen füllten…

Vier Jahre später, im Sommer 2008, trafen wir einander in Sitzenberg anlässlich der Uraufführung seines Stückes „Robert Stolz und Hermann Leopoldi“. Er lud mich ein, mit ihm in den nahe gelegenen Ort Rust im Tullnerfeld zu fahren, um das Geburtshaus Leopold Figls zu besuchen. Als wir vor dem schlichten Bauernhaus mit der Gedenktafel standen, schilderte er mir Anlass und Entstehen seines 2005 uraufgeführten Stücks „Figl vom Tullnerfeld“. Und mitten im Erzählen stockte sein Sprechen, nur langsam konnte er gepresst hervorbringen, wie sich damals das Publikum im Schloss Sitzenberg spontan erhob und minutenlang klatschte, als in der Szene 23 der Staatsvertrags-Satz ertönte: „Mir ham ihm! Mir ham ihm! Österreich ist frei!“

2008 im stillen Rust war nur eine einzige Person, nämlich ich, Geralds Publikum. Und ich gebe bewegt diese Erfahrung preis, um während der Verleihung des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst, I. Klasse, an ihn, dem Anspruch zu genügen, den innersten Antrieb zu den unerhörten Leistungen zu zeigen, die gleich noch zu würdigen sein werden: Diese Ergriffenheit, die sich der Konvention und Selbstkontrolle entzieht, verrät nämlich den eigentlichen Standort eines Menschen, oder, wie Schopenhauer es sagt: „Wo jemand seinen Ernst hat!“ Das beantworte ich hinsichtlich des heute zu Preisenden mit einem Zitat, den Schlusssätzen der berühmten Rede Max Reinhardts an der Columbia Universität 1928 „Über den Schauspieler“: „Mit dem Licht des Dichters steigt er in die noch unerforschten Abgründe der menschlichen Seele… Er ist Bildner und Bildwerk zugleich. Er ist Mensch an der äußersten Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum, und er steht mit beiden Füßen in beiden Reichen… (Seine) Kraft ist so groß, dass er nicht nur seelische, sondern auch körperliche Veränderungen hervorzubringen vermag… Es ist derselbe Prozess, den Shakespeare beschreibt, wenn er sagt, dass der Schauspieler hinsichtlich Miene, Gestalt, Haltung, das ganze Wesen verändernund um ein fernes Schicksal weinen – und weinen machen – kann.“

Ich fasse also zusammen: Gerald Szyszkowitz` tiefster Ernst liegt in seiner Erkenntnis- und Gestaltungsleistung, die fernes Schicksal unter Wahrheitsanspruch und seelischer Erschütterung zeigen und deuten kann.

Was es nun zu beweisen gilt, unschwer freilich:

Gerald Szyszkowitz wurde 1938 in Graz geboren; 1960 Dr. phil der Universität Wien; er war Assistent von Willi Forst und Peter Palitzsch, Regisseur in Bonn, Dortmund, Wilhelmshaven, Stuttgart, Hannover; Chefdramaturg und Regisseur in Graz, wo er die Ödön-von-Horvath-Uraufführung „Zur schönen Aussicht“ inszenierte; er war von 1972 bis 1994, also über 20 Jahre, Fernsehspielchef des ORF mit den legendären Produktionen von der „Alpensaga“ bis zum „Radetzkymarsch“. Die Geschichten vom „Mundl“ und vom „Kottan“, aber vor allem die Geschichten der „Blassblauen Frauenschrift“ von Werfel und Corti, die „Emigrantentrilogie“ von Troller und Corti, die „Slowenen-Trilogie“ von Pluch und Lehner, „Drei Wege zum See“ von Bachmann und Haneke, die „Alpensaga“ von Turrini, Pevny und Berner produzierte er… Besonders stolz ist er übrigens auf seine damalige Regisseurinnen-Reihe um Käthe Kratz, Susanne Zanke, Heide Pils, Kitty Kino und die anderen jungen Frauen… Und dann kam die „Arbeitersaga“, für die er aus politischen Gründen in die Musikabteilung versetzt wurde … Bis Gerd Bacher als Generalintendant zurückgekommen ist und Gerald Szyszkowitz wieder zum Fernsehspielchef gemacht hat…

Er war insgesamt für die Produktion von über tausend Filmen verantwortlich. Viele davon hat n u r e r gewollt. Immer sollten sie etwas mit der Gegenwart in diesem Land zu tun haben. Er wollte ganz bewusst, wie er es bei Shakespeare gelesen hatte, den Z u s c h a u e r n den Spiegel vorhalten … An vielen Abenden gab es – durch die Koproduktionen – Millionen Zuschauer in Deutschland, der Schweiz und in Österreich. Dreimal konnte er dafür den „Prix Italia“ entgegennehmen, die höchste Auszeichnung der Europäischen Fernsehanstalten.

Und in den Nächten schrieb er seine Romane … Den „Thaya“, den „Puntigam“, seine Israel-Trilogie „Mord vor der Klagemauer“…

Von 2001 bis 2009 war Gerald Szyszkowitz dann Direktor der Freien Bühne Wieden.

Dort hat er über vierzig Uraufführungen herausgebracht, davon 16 eigene Stücke. Zu Silvester 2009/2010, hat er die Direktion der Schauspielerin Mag. Michaela Ehrenstein übergeben.

Insgesamt hat er 17 Romane und 33 Dramen veröffentlicht. Es gibt viel Sekundärliteratur hiezu, davon 2 in Buchform. Und zwölf Übersetzungen.

FIGL sagt im Stück „Figl vom Tullnerfeld“ „Ich h a b keine Komplizen… Ich h a b keine Komplizen… Ich h a b keine Komplizen…! DEUTSCHER „Wenn Sie alle Namen vergessen haben, müssen wir Ihnen Gelegenheit geben, wieder einmal in Ruhe über alles nachzudenken… in Mauthausen… Und wenn Sie dort Schneeflocken an Ihrem vergitterten Fenster vorbeifliegen sehen… Werden Sie bald merken, dass das Aschenflocken sind…“

MARIANNE im Stück „Marianne Moritz oder Die Kunst des Vergessens in Alt Erlaa“: „Wer, wie du, nie Gefühle investiert, kann Abzeichen und Grußformeln wechseln wie Hemden. Deine Ideale sind immer nur der Deckname für deinen Ehrgeiz.“ MAX „Ich kann und will nicht Farbe bekennen. Ich wüsst auch gar nicht, welche….Ja, ich bin ein pragmatischer Mensch, der Karriere machen wollte und deswegen Karrierehilfen angenommen hat“.

Noch eine kleine eigene Beobachtung: Während der mehrwöchigen Proben für mein Reichsbrückenstück – täglich von 10 bis 14 Uhr, allabendlich lief das Szyszkowitzstück „Schiller und die Schwestern Lengefeld“ – sah ich mit großem Interesse seine Arbeit als Regisseur … Das Erarbeiten aller Schritte, Gesten, Blicke auf der Bühne, die Handhaltungen mit Zeichenrolle, Zirkel, Rechenschieber, Notizblock, Schlüssel, Halskette … Plötzlich sein Ruf nach dem Requisiteur: Auf dem Tischchen in Professor Plachs Wohnung soll bei den Büchern zuoberst der im Text zitierte ´Michael Kohlhaas´ von Kleist liegen. Das sei wichtig. Und daneben soll eine k l e i n e Vase mit Blumen in der Farbe des Kleides der Franziska stehen. Und zu mir gewandt flüsterte er: „Brecht sagt: Auch wenn du im Theater Armut zeigst, muss sie schön sein.“

Er gewährte mir damals ein kleines Interview: Ich: Welche Galaxien kreisen in deinem inneren Kosmos?

Er: Klassische Prägung im Grazer Akademischen Gymnasium, viele Jahre Griechisch und Latein … Die Ideale der Klassik … Der moralische und ästhetische Impetus von Rom und Athen … Aber auch die Tanzkunst meiner Mutter … Und die Literatur des Vaters. Er hat Romane veröffentlicht, war zeitweise Journalist … Die Malerei des Urgroßvaters, des Nazareners Josef Gold in Salzburg, die Bilder des Onkels Rudolf Szyszkowitz, eines bekannten Neuländers …

Ich: Deine „Produktion“ als Romancier, Dramatiker, Produzent, Regisseur und Maler ist immens. Woher kommt die Energie?

Er: Ich beobachte alle Personen um mich herum – und die in der Literatur -, und das, was ich beobachte, will ich dann darstellen … Im Roman, in den Stücken und in den Bildern … Mich interessiert: Warum reagiert diese Figur so? Aber jene anders? Und dabei versuche ich die klassischen, dramaturgischen Wirkungsgesetze des Romans – Leo Tolstoi, Theodor Fontane, Joseph Roth –, und die des Theaters – Shakespeare, Tschechow, Horvath – auch h e u t e zu beachten … Ja, ich hab sicher immer viel gearbeitet – aber ich konnte das auch, weil meine Frau sich um alles andere gekümmert hat, vor allem um die Kinder -, das war und ist sehr wichtig, aber wichtig ist a u c h : Ich habe immer mit einer außerordentlichen Lust gearbeitet, mit einer außerordentlichen Lust am Erkennen … Und am Formulieren … Jeden Tag und jede Stunde.

Allein die Theaterproduktionen von Gerald Szyszkowitz seit 2001 sahen über 50.000 Besucher. Fast alle Stücke hat er inszeniert, die Hälfte selbst geschrieben, die Auslastung war stets hoch – und genau das war auch die wichtigste Voraussetzung für die Beschäftigung von über 70 Schauspielerinnen und Schauspielern. In all den Jahren. Das war ihm wichtig. Er hat anderen Arbeit gegeben.

Der Kunstverstand, das Weltwissen, die Menschenkenntnis, der humanistische Durchblick, die schöpferische Gestaltungskraft, die alltägliche Handlungsfähigkeit und Vermittlungsbegabung, aber vor allem die literarische Aussagefähigkeit des Gerald Szyszkowitz sind einmalig. In den 30 Jahren, die Gerald Szyszkowitz nun in Maria Enzersdorf wohnt, hat er 33 Theaterstücke und seine 17 Romane verfasst – 13 Bände Übersetzungen liegen vor.

Das 17-bändige Romanwerk bringt es auf 3.739 Buchseiten. Goethe – über den Gerald Szyszkowitz sein jüngstes Stück „Der junge Goethe und die Herzogin Anna Amalia“ geschrieben hat – versteht seine Werke als ´Bruchstücke einer großen Konfession´. Was wäre wohl die ´Konfession´ des Gerald Szyszkowitz? Auch bei ihm ist alles, was er geschrieben hat, ist ein einziger großer Roman. Ein großes Drama zum Thema „Mein Österreich im Jahrhundert der Irrtümer.“

Wie erfreulich für uns: Er ist überzeugt davon, dass die besten Texte noch kommen werden. Gegenwärtig schreibt er ein Stück über den Schauspieler Werner Krauss, das im Frühjahr 2012 uraufgeführt werden soll.

Unlängst sah ich Gerald Szyszkowitz die Wiedner Hauptstraße überqueren (bei rot). In offener schwarzer Winterjacke, geduckt, die weiße Mähne im Regen, eilte er zu einem Arbeitstermin ins Café Wortner. Mir fiel in diesem Augenblick der Schlusssatz seines Friedrich Schiller paraphrasierenden Stücks vom Oktober 2007 ein: „Gerechtigkeit regiert eben leider nur auf der Bühne.“ Und ich meinte plötzlich klar zu erkennen, was der allertiefste lebenslange Antrieb zum literarischen Riesenwerk des Gerald Szyszkowitz ist: Das Herbeirufen, das Zum-Leben-Herunterzwingen der Gerechtigkeit, der benennenden, aufklärenden, Schicksal stiftenden Gerechtigkeit, auf die Bühne, ins Theater, durch die Kunst…

Die hoheitliche Zeitbemessung gebietet mir ungeachtet singulärer Tatsachen – wie Szyszkowitz als Autor der Papstrede 1983 und als Autorenschafts-Verweigerer einer Präsidentschaftskandidatenrede – hier zu schließen. Nicht ohne das Nächstliegende auszusprechen: Er ist der denkbar liebenswürdigste Mensch und Kollege.

Fragen wir uns also abschließend – eingedenk der zum Anfang geschilderten, ergreifenden Beobachtungen: Wo hat Gerald Szyszkowitz seinen Ernst? Er hat ihn – für uns! – bei uns, im Allertiefsten, dort, wo es für uns selbst ganz ernst wird.