Auszüge aus dem Essay von Dr. Karl Dieter Zessin über die „Holschuld“
Lesezeit: ungefähr 8 Minuten.
Der Germanistik, dem Feuilleton schenke und überlass’ ich es für Métier und Manier ihres Nachvollziehens und Hinterfragens, beispielsweise:
in der Historie der Literatur nachzuschlagen, um auf den großen Hermann Broch zu stoßen, der für valeur und vigeur der Romanform die Erkenntnisfunktion vindiziert hatte;
die einprägsam intarsierte table des matieres nicht zu einem nachgehängten Inhaltsverzeichnis zu verfälschen, sondern als eine gliedernd in den Text hineinragende Tektonik zu schätzen;
im angestammten Geschäft der Umschau nach Einflüssen und Abhängigkeit diesem Werk am Ende zuzugestehen, dass seinesgleichen nicht ausfindig zu machen ist in der gegenwärtigen globalen Buchproduktion;
der Aufarbeitung und Nachlese der in G1(Garanas oder die Litanei) und G2 (Der Brückenfall oder das Drehherz) bekundeten, beurkundeten Untaten von Wirtschaft und Politik die Siegeshoffnung einer Bewährung und Bewältigung zu versprechen, zu der Natur und Sprache anhalten und beihelfen;
der rhetorischen Frage nicht auszuweichen, ob die allgemeine Drangsal der öffentlichen Verseuchung einer Öffentlichkeit, die ihre maxima moralia Zucht Scham Ehrfurcht schon längst vergessen hat, ob dieses Elend so drastisch und dramatisch genug gezeigt wird, dass selbst dem Leser sine ira et studio Tötungsgelüst in die Fingerspitzen springt und steigt;
anzuerkennen, dass die Fächer Ethik, Strafrecht, Ökonomie ohne eingeschobenem Traktat, ohne herausgehobenem Essay aus voller Durchleuchtung abstrahlen.
De personis dramatis:
Zisser/Zweiner: Was für ein LiebesLied, hoch oberhalb der lovestories. Wer kann das heute noch sagen und singen? Gewiss nicht die aufdringlichen, uns aufgedrungenen ChartChamps, erstarrte in ihrer Impotenz. Indessen Zisser/Zweiner: Ein Blick, ein Händedruck und schon das wärmende Vertrauen, das innige Vertrautsein, in der Senke ihrer auferlegten Verquälungen.
Pfarrer Hadolt, Kaplan Theo Plach: Beide Gestalten, gerade der problemsüchtigen Intellektualistenliteratur unerreichbar, unerschwinglich, dieselbe, es nützt nichts, es nicht zu sagen, beinah zum bloßen Gefasel und Geschreibsel bloßer Literatur herabstoßend.
Hadolt: Differenz und Identität von Galaxie und Gehirn in der gigantischen hinfälligen Schöpfung auf der durchscheinenden Folie des unvergänglichen WORTES! Der an seinem Körper von Geschwüren Durcheiterte hält das hohe Priestertum aufrecht im corpus mysticum, dass den Gnadenschatz enthält und behält.
Hinwiederum ist Theo Plach an dieses sein Kreuz geschlagen: Dem wohllebigen, guten Gewissens allem Metaphysischen absagenden, siegreichen Konsumismus ist eine Idiomenkommunikation, also die katholische Dogmatik der göttlichen Trinität, nicht mehr zu vermitteln, bei sonstiger Gesundheitsschädigung der Pfarrkinder…Und dem aus Lebensmüdigkeit und Sterbenswünschen Wiedererweckten möchte jede Seelenhärte zu seinen Knien hinschmelzen.
Brenda: Der Wächter in der Wüste.
Dem Autor (Selbstschreiber) wird es von den herrschenden Meinungen und Stimmungen verwehrt, als Auctor zu wirken zur Verbesserung von Wirtschaft und Politik, dieses Schandpaars heute.
Mlady: Der getreue Eckehard, der auch einsteht für die maxima moralia bis zum Kampfesende.
Misser: Zisser’s alter ego, in der verstärkten Selbstreflexion der Ich-Sprache die Ermunterung und Ermutigung, niemals der Routine (Artistik, Virtuosität ) zu verfallen, sondern stets und ständig, frei und frisch aus dem Sprachquell selbst zu schöpfen, zu schaffen.
Küstler: Der tätige tötende Hass der Beraubten und Entrechteten. Seine Dämonie schlägt ihre Fänge auch um Zisser.
Kilb, Kretschmer’s: Die herzzerreissend die Kehle ohne Sentimentalität zuschnürenden kleinen Leute.
Matthias Mander, einer der Seltenen, die noch eine unverwechselbare, unersetzliche Stimme haben und geben, verlangt für sich einen eigenen Zugang. Diesen eröffnet er mit seiner Erfahrung von Sprache:
Seite 30ff: ….fortgesetzte Plage des Wörterfindes, des Sätzebildens…
….wollten nicht betrachtet, sondern benannt, betrieben werden…
Nur Stoff, keine Gestalt.
Neuerliche Wortsuche. Stimmige Sätze beruhigen…
In der Hinwendung zu diesem Namen spürte Zisser eine Erleichterung.
Seite 33: Habe kein Wort dafür. Jedenfalls keines das sich vom Sein herleitet.
Seite 51f: Eine Stelle der Weltliteratur, in der etwa eine Baumwurzel im Jardin de Luxembourg dichterisch erschlossen wird (Sartre).
Seite 86: …Beschreibung des Halbbewußtseinsstroms…unterhalb der Sätze, jenseits aller Grammatik..
Seite 94f:….Wörtersuche schafft neue Sprachbilder…
Unsere Ahnungen und Wortbilder über das Dasein: diese Ähnlichkeit mit natürlichen, wirklichen Gegebenheiten.
Seite 193:.. was trieb ihn jetzt noch, inmitten Ausgestoßen- und Verstummtheit, grammatikalisch geschlossene Sätze zu bilden?
Seite 205:.. Schreibplage….
Dieses Schreiben ohne Auftrag.
Er braucht das Erzählen.
Seite 229f: Kein Wort erreicht…
Benennen, der irrige Versuch…
Wortbohrungen, entspannend, entlastend.
Seite 263f:..Zwang, zur Feder zu greifen…
…Besondere Zwangslage zum Selbstschreiben
Wohlgewählte Wörter, scharf gefügte Sätze umspülen…
Granit in unserer Brust.
Seite 373: NT-Zitat – Himmel und Erde werden vergehn, aber meine Worte werden nicht vergehn
Seite 408: Die Kraft der schreibenden Selbstheilung.
Vergeblich und verschleudert aber wäre alle Rede, spräche sie nicht von einer könnenden Kraft, die vor dem Gefordertsein nicht liegen bleibt, sondern Erfüllung ersiegt. Desiderat, Postulat muss in Realisat übergehn. Das ist bei Matthias Mander überreich der Fall.
Schneesturm
S18
Klettern im Gefels. In der Kluft
S47f
Hochland, Gipfel und Wipfel. Überlebenswille der Föhre.
S51f
Holzhacken
S63ff
Weinen
S86
Der Rechen
S96ff
Das Holzmuseum
S141ff
Das Kummet
S192f
Baumfällen
S338ff
Abendliches Dunkelwerden
S394f
Sonnenaufgang
S409f
Wenn Rettung durch Erzählen, Selbsterlösung durch Beschreiben kein phantastisches Pathos eines leidenden Schriftstellers sein soll, sondern ein betretbarer Weg und Steg aus der Not des Daseins, nicht nur aus den unzähligen, jederzeit bedrängenden Nöten Tag und Nacht, sondern radikal aus der einen Not, in diesem schuldigen Dasein dasein zu müssen, was hat es da mit den helfenden Geistern Erzählen, Schreiben, vielleicht auch dem guten Meinen auf sich?
Der hier angemessene Stil ist, wie Matthias Mander es am besten weiß und macht an rechter Stelle, als exhaustiv- schürfend, enumerativ-häufend, demonstrativ-zählend zu be-schreiben. Die liebenswürdige lyrische Substantivenverliebtheit kommt schmückend hinzu. Der Meißel der kleinen Stiche, der knappen Striche gewinnt die Meisterschaft.
Nun ist aber die Welt in ihrer unzähligen Fülle unbeschreibbar. Ihr bietet die Beschreibung eine herausfordernde Stirn: die Beschreibung ist die Unbeschreiblichkeit, um es spekulativ und nicht paradox zu meinen.
Das die reine Beschreibung übertreffende Erzählen stellt die Jakobsleiter auf: Information, Performation, Transformation.
Von dem dichten festen granitenen Grund und Boden der Naturschilderung, der Wetterberichte, der Ortsbestimmungen führen die Begebenheiten und Befindlichkeiten, die Zustöße und Zumutungen: alle Filamente also, auf das kunstvollste in Erzählstrecken zueinandergefügt, in Handlungssträngen verschlungen, hinauf zu den Graten der loca superiora.
Erzählen bedeutet jetzt, ohne je ein rechnendes Aufzählen zu sein, ein Voraus-und Hinaufschauen auf die allen Sprossen und Stufen, Stationen und Stadien vorscheinende Vereinigung und Einigkeit dieser Teile, die das Erzählen selbst nicht zum Erscheinen bringen kann.
Jetzt ist Mander’s Sprache, die Gegenwart schenkende, nahe dem Ursprung und Anfang, ist nicht nur voce tenus gleichsam im paradiesischen Urstand, ist gehörig dem unbezwinglich Bestimmenden und Bleibenden im Vorbeiflug, im Vorüberzug der Dinge und Sachen.
Hyperbolisch gilt, dass es keine Zeile gibt im ganzen Buch, die nicht schwänge, vibrierte, zitterte von diesem Anspruch.
Wer nicht dahin mitwill, damit nicht mitkann, dazu nicht mitmuss bleibt von Vollgenuss und Wissenschaft des Werkes ausgeschlossen.
Die im zivilen Schuldrecht relevante Unterscheidung von Bring-und Holschuld wird in der von oder für Zisser gegebenen Erklärung ( Seite 5) in die Gegenüberstellung übertragen, in der gegen den Aktivismus von Engagement und Management die ruhig geduldig gelassen überlegende, überlegene Sammlung und Inständigkeit stehen. Mit solcher Volte ist aber noch nicht genug getan, um dem homo religiosus Zisser gerecht zu werden.
Zisser hatte, leistend, duldend, alle Verpflichtungen des Rechts und der Moral in den Zustössen und Zumutungen seines langen Lebens eingelöst und erfüllt. Es bleibt das cor inquietum et incurvum:
Aufgerissensein, Ausgesetzheit, Gezogenheit, Gebrochenheit in sich und für den anderen:
Schuldgefühl, Schuldbewußtsein.
Was ist nun diese Schuld, die ganz anders ist als die für die Verletzungen der rechtlichen und moralischen Verbindlichkeiten und Verpflichtungen ausgesprochene, verhängte?
Es ist die ungesättigte, unsättigbare, erbsündige Schuld, die das Dasein, ob jammerndes, ob jubelndes, unablässig untergründig abgräbt, hinter allen Schutzschilden und Abwehrwällen der Verdienste und guten Werke dieses Dasein auffrist und aussaugt, bis es in namenloser, gegenstandsloser Angst (Seite 312) seine Nichtigkeit, sein Nichts erfährt und erleidet.
Wer ist aber, das Seine holend, der Gläubiger?
Man kann und darf nicht wegschauen, zu sagen nicht sich scheuen:
Gott. ( Der Gott. Die Gottheit.) Der Ungenannte. Der Unbeschreibliche. Der Bestimmende.
Was soll das nun heißen für die narrative Darstellung, die der inneren Stimmigkeit und Schlüssigkeit sich verpflichtet?
Vorsichtig vorantasten und nicht Thesen annageln will diese Etüde:
Uneinholbar und unüberholbar geht und schreitet und schreibt das Darstellen von allen Seiten hin zur Schnitt-und Bruchlinie zwischen der unterweltlichen Welt und dem verborgenen, entflohenen Gott, schreitet und schreibt aufrechten Ganges inmitten der Schläge des bösen Feindes und der Tröstungen der Güte, schreibt hochgemut in die aus den Dickichten der Bedrängnisse und Hemmnisse hinausführende Spur…
Dafür muss der zur sprachlichen Bewältigung und Formgebung einzig Berechtigte, Zisser, noch einmal vor seiner nicht sehr fernen Sterbestunde den Sprung und Sturz ins tätige Leben wagen, Bringschulden eingehend, einlösend.
Dadurch wird er, die neuen Bestände der neuen Filamente ertragend und abarbeitend, einhaltlos durchlässig und zum Tode leer und ledig geworden sein, solange, bis die rettenden, heilenden Sprachaufträge – endlich endend die Ohnmacht – wieder eintreffen zur Empfängnis.
Rezensenten werden schon bei geringem Grad redlicher Reflexion nicht umhin können, von einem opus magnum zu reden, wenn sie auch besser daran täten, die ganze Trilogie als opus maximum außer Streit zu stellen.
Niemand aber darf nach dieser Vollendung noch in ein Optimum hinaus weiterfragen.
Dieter Zessin