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Stefan Helmut Milletich „Das Elend der Männer“

Lesezeit: cirka 4 Minuten.

Ein Roman, Edition Roetzer 2006 ISBN 3-85374-382-x

 

An das Prosagroßprojekt „Raum- und Zeitverschränkung“ tritt der burgenländische Schriftsteller Helmut Stefan Milletich mit dem Anspruch heran, eine narrative Totale gemäß den Vorgaben seines Herkunftslandes – geographisch und historisch -, seiner Herkunftsperspektive – sozial und religiös -, seiner Herkunftsemotionen – tragisch und rebellisch – zu vermitteln.

Dem nunmehr bei Roetzer Edition (Lektorat?), Eisenstadt, erschienenen Ersten Band, „Das Elend der Männer“, setzt der Verfasser das Heinrich-Heine-Gedicht vom unglücksel`gen Atlas vor, der eine ganze Welt der Schmerzen tragen müsse: „… trage Unerträgliches… unendlich elend… stolzes Herz…“

Heines Atlasgedicht fungiert als Auftakt einer in aktuelle atonale Wut- und Trauermusik getauchten meisterhaften Beschwörung der geschichtlichen Lebensumstände sowie Schicksale und Bewährungen dieses östlichen Flachlands in ferner Vergangenheit, insbesondere zur Türkenzeit.

Das wohl: Ein stolzes Herz wird in den dreihundert Seiten Text ausgeschüttet, rücksichtslos preisgegeben in seinem Herzleiden, Herzflimmern, Herztoben, seinen Herzensanliegen, Herzkrämpfen. Stefan Helmut Milletich` Aufschreibungen setzen als spröde Reflexionen ein, Anlauf um Anlauf wird zur Erschließung des durchaus traurigen Weltgefühls ihres Produzenten-Protagonisten genommen, Blöße um Blöße gibt sich der selbstlose Egoist um seine subjektive existentielle Wahrheit – die einzig literarisch gebotene – außerhalb seiner und rings um sich aufzurichten. Dann erst setzen die dramatischen, hinreissend berichteten Geschehnisse der burgenländischen Heimat im 17. Jahrhundert ein: Beste, treffende, unvergeßliche Lektüre wird geboten! Etwa auch die Schilderung der kultur- und geistesgeschichtlichen Situation, musikpraktischen Fakten, theologischen Einsichten der erzählten Epoche, abgesehen von packenden, ergreifenden Szenen…

Alles freilich geworfen in ein Flechtwerk von Vorgriffen, Episoden, Exkursen, Abhandlungen aus der breiten, kritisch erlittenen Gegenwart. Als unverwechselbares, also singuläres Dokument ist diese Schrift jedenfalls einzuwerten: Sowohl der gigantische Stoff wie sein haltloser Bändiger sind in einer Mächtigkeit ausgebreitet, die Respekt gebietet: Delirierende Anamnese einer aggressiven Depression; revolvierende Exaltationen einer literarischen Agonie; ungekünstelter Einblick in quälendes Innenleben eines höchstgebildeten, überinformierten Schriftstellers. Doch der Verfasser opfert streckenweise die Ästhetik der Authentizität – bei der sonst erwiesenen Kompetenz des Autors kann das nur wissentlich geschehen sein: ebenso verehrungs- wie diskussionswürdig.

Jeder Rezipient dieses Ersten Bandes wird für sich selbst deuten müssen, warum als Gattungsbezeichnung nicht „Roman“, sondern „Ein Roman“ gewählt wurde: Dieses „Ein“ insinuiert etwa das durchaus literaturtheoretisch legitime Bestehen darauf, dass auch solche sich über viele Seiten erstreckende aktuelle selbstreflexive Rahmenpolemik der Gattung Roman zuzuordnen sei.

Einige Zitate: „Ich bin ein Versager, auf keinen Fall möchte ich widerlegt werden, indem mir einer diese Publikation vorhält.“ S. 6

(Welche Stärke erlaubt eine solche Elfervorlage?); „Gedankenfülle im Kopf… in keinem Augenblick den Verdacht, verrückt zu sein.“ „Ich hatte die Dinge zurechtgerückt.“ S. 16; „Auf dem Gehirn taub“ S. 31;

“ …unser Leben in einer Art Kurzparkzone..“ S. 34; über eine Bibliothek: „…dass diese toten gelben Blätter eine tiefere Wahrheit in sich trugen als diejenigen (Menschen), die dieselbe Wahrheit und Wirklichkeit erlebt hatten.“ S. 113; „Menschen… (mit) niedergedrückten Wünschen und fast keiner Vorstellung von Welt.“ S. 123; „Die Lerchen flogen auf dem Acker herum, auch wenn er brannte.“ S. 128; „Eine Lerche über dem Feld und ein Brandwind über den Halmen, der scheuchte sie vor sich her.“ S. 130; „… fiel sie in sich zusammen… dankte Gott, dass sie nun verwehen durfte, in der Hoffnung auf einen schnellen Tod, der nun kommen konnte.“ S. 132; „Wir haben begonnen, den Türken zu überwinden.“ (nachdem der Theologe Magister Kornelius die geschändete und entstellte Loni in sein Haus getragen hatte) S. 146; „Obwohl mir in diesem Land hier fast nichts gefällt und obwohl keine einzige Idee, die jemand in einem gesunden Hirn entstehen läßt, auf gesunde Weise ins Leben kommt, ist es das einzige Land, in dem ich noch leben kann.“ S. 158; „Mief des Mißlungenen“ S. 201; „Wahrscheinlich leisten die meisten Menschen weder in ihrem erlernten Beruf etwas, noch in ihrem Freizeitberuf, sondern schlagen in ihrem Beruf und in der Freizeit die Zeit und die Umwelt tot.“ S. 228; „Umgruppierung der Parasiten“ S. 262; „Bürgertum, das zwischen Beethovens IX. und Sommerfrische an einem Kärntner See pendelt und nichts reflektiert.“ S. 268; „… ich kann mit ihren Ausführungen eigentlich nicht leben.“ – „Auch ich kann nicht mit dem leben, was ich denke.“ S. 271.

Und zuletzt die schönste Liebeserklärung, die mir seit Jahrzehnten vor Augen kam: „Ich weiß es, dass dieses Gesicht von nun an nicht mehr weggehen wird von mir, sondern mich begleitet, so lange ich lebe, und darüber hinaus. Und ist es nicht eine tröstliche Angelegenheit zu wissen, dass man immer behütet ist,… was immer geschieht?“ S. 116.

Das Buch vom „Elend der Männer“, dieses Milletich`sche Kodizill, wird auch von mir nicht mehr weggehen.

 

Matthias Mander