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Ilse Tielsch: Von der Freiheit schreiben zu dürfen

Lesezeit: ungefähr 3 Minuten.

Zehn Texte mit einem Nachwort von Helmuth Niederle

125 Seiten      2014

Driesch Verlag Drösing

ISBN 978-3-902787-29-3

Zehn essayistisch wie poetisch überaus wertvolle Texte der großen Autorin sind versammelt. Zwischen 1989 und 2013 verfasst und gesprochen oder gedruckt, werden Arbeiten vorgelegt, die anlässlich von Preisverleihungen oder Konferenzen entstanden sind, aber auch genuin dichterische Erzählungen.

1.) Über die „Freude“ sagt Tielsch – Heinrich Heine paraphrasierend -: „Finden sich zwei ähnlich gestimmte Seelen, dann bedeutet das für sie ein durch andere Gefühle nur unvollkommen oder auch gar nicht ersetzbares Wohlgefühl, das man als Freude bezeichnen kann.“ (S. 7) – 2.) Auf ein Jahrzehnt des Romaneschreibens zurückblickend heißt es: „Man ist an der eigenen Gegenwart vorbeigegangen… man würde am liebsten die Zeit zurücknehmen… es erweist sich aber, dass diese Zeit tatsächlich vergangen ist. Man taucht auf, sieht sich in das Heute zurückgeworfen.“ (S. 15 ff) – 3.) Von ihrer Lebensspanne wird gesagt: „Eine Epoche, die für ein menschliches Gehirn auf kaum fassbare Weise durchtränkt ist von entsetzlichem Geschehen, in der nichts, aber auch wirklich nichts von dem nicht verübt worden ist, was Menschen ihresgleichen antun können.“ (S. 22 ff) – 4.) Die Rede über Eichendorff endet so: „Viele der Orte, die er in seinem Wiener Tagebuch nennt, befinden sich in meiner Nachbarschaft. Nicht weit von mir steigt die Höhe des Bisambergs an, über den er gewandert ist, `wo sich plötzlich (Zitat) die herrliche Aussicht auf das Donaugebirge und das dunkle Wien mit seinem Stephansturme wieder eröffnet. `“ (S. 39) – 5.) Das Einleben in Wien nach der Vertreibung aus Mähren liest sich so: „Wir benahmen uns, wie Zuwanderer sich zu allen Zeiten verhalten haben. Wir versuchten nach Möglichkeit, in keiner Weise unangenehm aufzufallen, wir baten, ersuchten, bewarben uns höflichst, bedankten uns für jedes noch so kleine Zugeständnis, das man uns machte, mindestens einmal zu oft.“ (S. 48) – 6.) Sprachverlust wird so beklagt: „Von diesen wenigen Tonbändern werden die Kinder unserer Kinder erfahren, wie die Deutschen Böhmens, Mährens und Schlesiens gesprochen haben … Denken Sie an die schlesischen Dramen von Gerhart Hauptmann…, die heute niemand mehr spielen kann.“  (S. 63) – 7.) Ihre verlorene mährische Kleinstadtgasse schildert die Dichterin in strahlender Prosa aus heißem Herzen: „Die Landstraßen waren gesäumt von Kirschbaumalleen, über dem ungewöhnlich großen, quadratischen Stadtplatz brütete im Sommer die Hitze wie in Umbrien oder in der Toskana, Pfirsiche wie die unseren habe ich später nur noch in Italien gegessen. Mandelbäume trugen im Herbst reife Früchte, dazu kam der in dieser günstigen Lage besonders köstlich reifende Wein.“ (S. 66) – 8.) Dieses Thema erweiternd: „Meine Eltern haben es, so lange sie lebten, abgelehnt, das Land, das ihnen Heimat gewesen war, zu besuchen, sie fürchteten den Schmerz, den ihnen eine solche Reise bereitet hätte.“ (S. 76) – 9.) Die vertriebene 16-jährige Ilse beobachtet eine ukrainische Zwangsarbeiterin, die gleichzeitig mit ihr in dem Kremstaler Bauernhof lebte: stumm, fleißig, gesichtslos. Jetzt, nach fast 70 Jahren, widmet ihr Ilse Tielsch eine tiefgehende Erinnerung und Auslegung ihres Schicksals. Gegen Ende der feinst gezeichneten Erzählung kommt folgender Satz vor: „Ich sehe den amerikanischen Jeep in den Hof einfahren, wie er damals in den Hof eingefahren ist.“ (S. 98) Dieser Satz ist ein stilistisches Gustostück, eben weil er scheinbar ein Pleonasmus ist. Endete der Satz beim Beistrich, ergäbe er zwar die gleiche Information – freilich ohne jenes abgründige Ritardando, das die Angst mitfühlen lässt, wenn ein unsicher suchender fremder Militärwagen bedrohlich schnell in den Hof prescht. – 10.) Der Buchtitel findet im letzten Abschnitt seine Auslegung: „Wir DÜRFEN schreiben, wir haben durchaus die Freiheit, es zu tun … Wir haben die Freiheit … einen Schreibtisch dort aufzustellen, wo er niemanden stört. …Wenn wir uns dazu entschließen, … haben wir durch besondere Leistungen zu beweisen, daß wir … ernst zu nehmen sind.“ (S. 112) Die scharfsichtigen Reflexionen vor und zwischen und nach diesem heraus gekürzten Zitat seien zur packenden Lektüre empfohlen.

11.) Das überaus kompetente Nachwort Helmuth Niederles verbindet das Obige mit der Lyrik von Ilse Tielsch. Und tatsächlich findet sich dort der schönste Schlüssel zum grandios erschlossenen Lebensthema der Dichterin: „An der Schwelle meines Schlafes/ stehen sie alle/ und sehen mich an.“

 

Matthias Mander