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Helmut Pacholik – Zeitenwende

Lesezeit: ungefähr 8 Minuten.

Marchfeldschicksal

1944 – 1955

 

Roman

220 Seiten

19 Euro

 

Literaturedition Niederösterreich

ISBN 978-3-902717-08-5

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Helmut Pacholik ist ein Flammender, Verströmender, Erweckter, lebenslang das ihm Vorgegebene Überschreitender, auf eine „Begeisterung“ hin Aufschließender, die in zahlreichen lyrischen Bekundungen seiner Naturliebe, Weltliebe, Menschenliebe vorliegt. Und in seinem praktischen Einsatz für Wohltaten an Mitmenschen und Behüten von Tieren und Pflanzen ist Helmut Pacholik eine weitum geschätzte Marchfelder Größe. Seine jahrelange kollegiale Treue für den durch einen Schlaganfall gelähmten und verstummten Groß Enzersdorfer Dichter Friedrich Heller ist beeindruckend, vorbildlich – und auch dankenswert stellvertretend. Pacholiks Einsatz für Naturschutz bewirkte immerhin 1976 das Vorwort des Nobelpreisträgers Konrad Lorenz für seine Schrift „Schatten über dem weiten Land“.

Nun aber, Ende 2010, legt der Gänserndorfer am Beginn seines achten Lebensjahrzehnts seinen ersten Roman vor. „Zeitenwende“ ist dessen zutreffender Titel, doppelt zutreffend, arbeitet er doch die ganz persönliche Zeitenwende eines Kindes von seinem fünften bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr auf – in jeder Biographie ein dramatischer Umbruch -, im Fall des Romanhelden Robert Bukowsky aber dupliziert und potenziert sich die individuelle Entwicklung durch den Zeit-Raum, in dem sie erfolgt: östlich Den Endphasen, dem Kataklysmus des 2. Weltkriegs in der österreichischen Großebene Marchfeld, Wiens – immer wieder topographisch ungeschütztes Schlachtfeld seit der Römerzeit – diesmal Ort dröhnenden Zerfalls des Hitlerreichs, Schicksale zermalmend…

Damals und dort lebt der fünfjährige Bub Robert Bukowsky. Seine singuläre Erweckung zur Lebenswirklichkeit beginnt in seinem Obersiebenbrunner Wohnhaus mit dem verheerenden Bombeneinschlag, der seine Mutter tötet. Sein Dasein endet elf Jahre später unter den Rädern eines Militärlastwagens in der Wiener Innenstadt, von einem betrunkenen Besatzungssoldaten just in dem Moment vor die Technikschule gesteuert, die Robert besucht als fleißiger Schüler, der täglich mühsam mit der Ostbahn zum Unterricht in die Stadt fuhr.

Der Roman „Zeitenwende“ erzählt die Zeit dazwischen, schildert des Jungen charakterliche Entwicklung, gebrochen durch die stets spannungsvolle, gewaltvolle, leidvolle, einmalig bittere Kriegsphase seiner kurzen Lebenszeit. Doch wie viel Leben konnte sich dennoch entfalten!

Der Berichterstatter Helmut Pacholik hat jene Kriegsschlussepoche im Alter zwischen fünf und sechzehn Jahren mitgemacht, ich habe sie zwischen elf und zwanzig durchlebt; er im Marchfeld, Bezirk Gänserndorf, ich in der Südsteiermark, Bezirk Leibnitz. Jede Einzelheit der von ihm vorgelegten Inhalte und seine Darstellungsweise kann ich bestätigen: Zerbombtes (in meinem Fall gesprengtes) Wohnhaus; Todesängste; Verkommenheit und Sittenverfall; Untergangsorgien; tote Mutter, tote Nachbarskinder; Leichen in Wasser, Wald und Flur; Vater verschollen; Notunterkünfte; umher liegende Waffenmassen; marodierende Soldateska; nahestehende vergewaltigte Frauen; menschliche Großtaten vor allem von Frauen; verbotene Wohltaten für Kriegsgefangene; KZ-Überlebende; verstörte Heimkehrer; irritierendes Benehmen ehemaliger Nazis; provisorischer, rudimentärer Schulbetrieb, gute Lehrerinnen, vom Krieg geprägte Heimkehrerlehrer; langsame, misstrauische Rückkehr in bescheidene Normalität oder besser, psychische Konstituierung des Unabänderlichen als Normalität; erste tiefe Naturwahrnehmung, Landschaftsoffenbarung, Poesie und Pietät, erste Liebe.

Aus der „Zeitenwende“ habe ich gelernt, dass die dort geschilderten Hunderten Verhaltensweisen von 1945, die sich voll mit meiner Detailerinnerung decken, archetypisch sind. Ja, wie es im Klappentext des Buches steht: Dieser Text ist ein Dokument! Aber nicht nur für jenen Zeitabschnitt und für moralisches Bewähren und Versagen, sondern auch für die Grenzen, solches Geschehen vollständig und vollkommen zu beschreiben. Pacholiks Buch ist daher auch ein Dokument, wie ein übergroßer, überschwerer Stoff den Schriftsteller an seine Grenzen verweist. Wie jeden anderen. Beispiel: Der KZ-Überlebende Simon Feldbach, im benachbarten Notverschlag von den Zusammengepferchten hilfreich aufgenommen, wird zum – den verlorenen Vater teilweise ersetzenden – Gesprächspartner Roberts. Doch über die Vorgänge in den nazistischen Vernichtungslagern wird nicht geredet. Weil es eine Sprache zu deren Benennen oder gar Bewältigen nicht gibt. Es bleibt die Rede aus der Ohnmacht eines kleinen leidenden Menschen inmitten satanischen Geschehens, ohne dieses verbalisieren zu können. Nicht Wissenschaft leistet das, auch Kunst nicht, nur authentisch ohnmächtige Zeugenschaft: Es wird viel geweint in Pacholiks Buch.

 

Dem kürzlich erschienenen Essayband (Sonderzahl 2010) der Wiener Übersetzerin und Literaturkritikerin Karin Fleischanderl entnehme ich folgenden Text (S. 20 ff): „Für alle… denen es gelingt, Literatur zu machen, gilt, dass sie die Tradition mit ein wenig Leben erfüllen…auch wenn sie sich damit zufrieden geben müssen, alte Formen weiterzuführen, in der Tradition der realistischen Literatur zu schreiben. Dennoch gelingt es ihnen, etwas von sich `einzubringen`… sodass sich daraus eine individuelle Sichtweise… und ein individueller Blick auf die Wirklichkeit… ergeben. Bei Texten, die diese Kriterien erfüllen, hat man das Gefühl, sie haben eine Tiefe, auf die einzulassen es sich lohnt, sie verfügen über einen Reichtum des Blicks oder des Herangehens an die Dinge, sie lösen eine Fülle komplexer und zuweilen auch widersprüchlicher Regungen aus. Sie bringen eine Wahrheit ans Tageslicht, sind authentisch, ehrlich, zuweilen auch unvollkommen, fehlerhaft… vermitteln aber dennoch das Gefühl, irgendetwas von der Welt, der Wirklichkeit begriffen zu haben.“

 

Nicht mit der rauen Könnerschaft des Routiniers ist dieses Buch verfasst, sondern mit Herzblut geschrieben, das ist seine Eigenheit. Diese Prosa ist nicht griffig, trocken, hart, sondern ergriffen, gefühlsvoll, beschwörend. (Die Attribute „wundersam“ oder „unermesslich“ und ähnliche sind unschwer öfter zu überspringen.) Dennoch greift die Erzählung stark in den Wissenserwerb und Bewusstseinsstrom des Lesers ein.

Einige Zitate:

Überall Särge! …Geöffnete, zersplitterte, geborstene Särge – zu einem wüsten Berg übereinander getürmt. Der ihm so vertraute Hof mit den aufgeschichteten Brettern, den Leimtiegeln und Töpfen, in dem er so oft gespielt hatte, war nicht wieder zu erkennen. … der anschließende Trakt der Tischlerei, der als Sarglager diente, war verschwunden.“ (S. 8)

Er kannte dieses Gesicht vom Gefangenenlager gegenüber der Straße – impulsiv schlang er seine Arme um die Beine des Mannes – und weinte.“ (S. 8)

Ich muss noch zu meiner Mutter, bevor ich an die Front gehe, und ich möchte, dass du mich begleitest. Ich bitte dich darum, Marlene!“ (S. 26)

„… bei den Russen ums Essen betteln, mit gleichaltrigen und älteren Buben raufen… ließen Robert Bukowsky altern, … nicht im Äußerlichen, aber in seiner Seele altern… verschlagen und hinterhältig, um für sich und seine Geschwister Michael und Gisela … ein Überleben zu sichern.“ (S. 48)

Er hatte eine Armbanduhr aus der Hosentasche gezogen, die er einem betrunkenen Russen gestohlen hatte, und sah angeberisch… auf das Zifferblatt, so als würde er sich bestens mit Uhren auskennen.“ (S. 51)

Die Buben duckten sich noch tiefer ins hohe Gras des Straßengrabens, als sie die

T 34 Panzer wahrnahmen. Die Luft war erfüllt von Höllenlärm. Die Straße über ihnen bebte, als die nicht enden wollende Kolonne, keine zwei Meter weit weg, an ihnen vorüber zog.“ (S. 52)

Munition in ganzen Paketen, Patronen verschiedener Kaliber, Gewehre, Pistolen, Granatwerfermunition, Stiel- und Eierhandgranaten, zerschlissene Uniformen… Munitionsgürtel… eine Fundgrube für die Buben.“ (S. 56)

Der Martin, der Motz und der Ritschi – sind tot… Die Größeren…haben die Waffen, die wir im Schlosspark gefunden haben, gesprengt.“ (S. 67)

Nach wie vor besaß er, wie die meisten Kinder in der Klasse, nur ein Heft für drei Unterrichtsfächer oder lediglich Zettel… geschrieben wurde mit Bleistiften und Bleistiftstummeln, den sogenannten `Verlängerern`“. (S. 74)

Ein paar Kartoffeln, einen halben Liter Milch, ein Hühnerei oder zwei, ein bisschen Salz und Zwiebeln und eine Speckschwarte, an der noch ein Ansatz geselchtes Fleisch war, eine Köstlichkeit für eine Graupelsuppe.“ (S. 77)

„… die beißende Kälte spürte er nicht mehr. Siedende Schneefahnen tanzten über die brachen Felder.“ (S. 87)

Viele kleine, goldene Sonnen der Huflattichblüten säumten den Weg der beiden, hinaus ins Quellgebiet des Stempfelbaches, zum Speltengarten. Vor ihnen lag die scheinbar noch schlafende Erde – mit den überschaubaren, weithin gedehnten Schachbrettmustern der Felder.“ (S. 96)

Blasse, magere Gestalten, in schäbige Mäntel gehüllt, stiegen wankend aus den Viehwaggons. Viele Kinder sahen… ihre Väter zum ersten Mal!“ (S. 99)

Im Zuge des Wegräumens von Schutt und Trümmern kamen auch so manche Baustoffe zu Tage, die Mangelware waren. Ziegel, Stück für Stück! Sie wurden gesäubert – alter Mörtel wurde mit dem Hammer abgeschlagen – und gestapelt, zur Wiederverwendung hergerichtet.“ (S. 112)

Am Ortsgraben, der sich gemächlich in sanften Mäandern durch die kurz gemähte Dorfwiese schlängelte und zwischen dem Insel-Häuserblock im Anger, gut an die hundert Meter weiter, heimlich zu versiegen schien, wuchsen Halme, Rispen und Gräser – Beifuss, Kletten und Eseldisteln, Ranken, Blüten und Blätter.“ (S. 115)

Für die vielen leidgeprüften Menschen des Marchfeldes bedeutete die Zuckerrübenkampagne die erste große Erwerbs- und Arbeitsmöglichkeit der Nachkriegszeit, und linderte die Not… nachhaltig!“ (S. 140)

Tage des ziellosen Umherschweifens in der flimmernden Glut der Sommersonne, an denen es nach Minze und Kamille roch, nach Staub und Stroh und Brot, und dem … süßen Duft unter… blütenkochenden Linden.“ (S. 148)

Fern, als schmaler Streifen, dunkelte der Wald über den Horizont empor. Große weiße Wolken zogen über den weiten Himmel des Marchfeldes. Turteltauben gurrten schläfrig in den Feldgehölzen.“ (S. 150)

„…dunkel, wie ein schwarzer Flor hoben sich die Karpaten im Osten am Horizont empor. Und im Norden als schmaler Streifen, der Wald mit seinen mächtigen Föhren und dem vielfarbigen Blätterboden…“ (S. 190)

 

Die existenzialphilosophische und fundamentaltheologische Einwertung dieses nur 16 Jahre währenden juvenilen Lebens des gefühlstiefen und gutherzigen Robert Bukowsky bleibt ohne Abhandlung durch den Romancier. Zu recht wohl, denn die Funktion der Belletristik ist die Phänomenologie, nicht die Universalinterpretation. Beide Disziplinen freilich stimulieren einander im Gehirn des Rezipienten. Die Erschütterung, ja Erschlagenheit angesichts einer solchen immanenten Absurdität ist freilich einen weiterführenden Fragesatz wert. Helmut Pacholik liefert ihn mit dem letzten Atemzug des letzten Kapitels: „Der Lebensfaden zerrissen! Vielleicht die intensivste Begegnung zwischen Mensch und Gott…“ (S. 217)

Noch einmal aus der neuen Literaturtheorie Karin Fleischanderls: „Man kann… auf alle Werte sehen, die den Menschen im Lauf der Geschichte teuer waren, auf Gefühle wie Trauer um unwiederbringlich Verlorenes, Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben – Gefühle, die sie bevorzugt der Literatur anvertraut haben.“ (S. 80)

 

Treffend formuliert – auch anwendbar auf den Dank an Helmut Pacholik, der in bester Absicht und Kraft solcher Literaturauffassung einen Beleg geliefert hat.

Möge dieses Buch in vielen Häusern seiner Altersgenossen, deren inzwischen längst erwachsenen Kinder und aller seiner Marchfelder Mitbürger zu deren bleibendem Nutzen aufliegen.

Matthias Mander