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Die Holschuld des Ökonomen

Lesezeit: cirka 11 Minuten.

Vom richtigen Leben im falschen (nach und gegen Adorno und Sandel…)

Referat im Wirtschaftsforum Wien, 9.9.3013

 

I  Die alltägliche Bringschuld heißt investieren, kalkulieren, akquirieren, organisieren, terminisieren, produzieren, transportieren, fakturieren, bilanzieren – dies alles unter harten, widersprüchlichen, kaum erfüllbaren Bedingungen, also weitab vom Optimieren. Weil – so heißt es – es gäbe eben „kein richtiges Leben im falschen“. Solches träfe freilich nur zu, wenn wir nicht auch unsere Holschuld bereitlegten, indem wir reflektieren, kommunizieren, kritisieren, diskutieren, korrigieren, eben innovieren! Die Bringschuld ist pünktlich zuzustellen. Die Holschuld ist auf Abruf bereit zu halten. Deren Einbringen – also grundsätzliche geistige Arbeit – sichert das persönlich richtige Leben auch im falsch kodifizierten Systemleben. Auf Adornos berühmtesten Satz, 1947,  „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ antwortet Robert Spaemann,  2012 (320): „Das kann nicht wahr sein. Dieser Satz gehört selbst zum falschen Leben.“ – Aber auch 2013 müssen wir von Michael Sandel lesen: Der Marktpreis erspart uns eine Diskussion über den Wert einer Ware und ermöglicht – so wörtlich – „die Flucht vor moralischer Einschätzung und vor einem Diskurs über das richtige Leben.“  Dass wir nicht wissentlich falsch leben wollen, beweist dieses heutige Treffen, um die Holschuld zu erfüllen.

II Mein kleiner Beitrag hierzu entfaltet sich aus zwei Romanen: „Der Kasuar“ aus 1979 und „Die Holschuld“ aus 2012, also 33 Jahre, eine Generationenspanne voneinander entstanden. In diesem Haus wurde 1979 der Anton-Wildgans-Preis für den „Kasuar“ verliehen. Dieser Roman – von der NZZ als Durchleuchtung der Industriegesellschaft bezeichnet – enthält folgende Zitate:

(392) Industrie lässt sich mit Rohstoffen ein, mit Schwerkraft, Rückfall, Rost, zerfallenden Verbindungen, Auflösung, Zerschleifung und Bruch, mit Unwissen, Müdigkeit, ja, auch mit Tücke und Bosheit. Ihre nie endende… Mühe, gegen den Mahlstrom der Einebnung zu arbeiten, immer wieder dem Verwittern, Abkühlen, Altern Ziele entgegenzusetzen – Industrie steht gegen Entropie, Fleiß gegen jedes Zerfließen…

(313) Bekenntnis zu industrieller Produktionsweise, wie viel Hunger sie schon gestillt, Freiheit sie schon gebracht hat, redliche Belohnung schwieriger Lernprozesse, schmerzhafter Selbstveränderungen. Dankgefühl für ermöglichte Bewährung an dieser Aufgabe: mit der Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns, in Treu und Glauben, verläßlich in ferne Erdteile nützliche Metalle, Kunststoffe zu liefern. Ehrlicher Preis deckt gerade noch Risken, enthält niemandes inhumanen Luxus.

(288) Innerhalb der gegenwärtig wirksamen Ordnung leben und handlungsfähig bleiben, so zugleich genug Kraft erübrigen, an einer Neuentwicklung zu arbeiten.

 

Und die damalige Dankrede gipfelte im Bekenntnis: „Industrie bietet jene unsere Gattung kennzeichnende Superstruktur, in der sich das Prinzip der Selbstübersteigung, des antizipierenden und transzendierenden Entwurfs zu einem eigenständigen Universum aus Wissenschaft, Technik, Ordnung und Arbeit, Risiko und Mut, Fachwissen und Menschenkenntnis entfaltet hat.“ – Es ist unübersehbar, dass die Wirklichkeit des Autors von der Realwirtschaft geprägt war.

 

Der jüngsten Veröffentlichung „Die Holschuld“, 2012, sind folgende Texte entnommen:

(24) Am 13. November 2008 hat der Obmann jenes Privatvereins, der die amerikanischen Bilanzbestimmungen festlegt, an Präsident George W. Bush einen Brief gesandt, unterfertigt vom Finanzminister und Zentralbankchef, mit der Aufforderung, keinesfalls am 15. November 2008, anlässlich des G-20-Weltgipfels dem Antrag der übrigen Wirtschaftsgroßmächte zuzustimmen, die amerikanische Bilanzierungsweise zu ordnen! Dort können nämlich jene Unternehmen, die eigentlich überschuldet und zahlungsunfähig sind, durch falsche Rechnungslegung immer wieder Aktien unter die Bürger bringen und sich so Geld beschaffen. Überhöhte Ausgaben werden als sogenannte `Umgliederungskosten` von den Aufwendungen ausgeschieden, das erhöht fiktiv den Gewinn;  Beteiligungen werden zu hoch bewertet; Verlorene Werbekosten werden als stolzes `Marktvermögen` ausgewiesen! Das wollen die aber nicht offenlegen, deshalb drohten sie am 13.11.2008 den Weltführern: Internationale Bilanzierungsvorschriften, die es erschweren, nicht vorhandene Werte und Gewinne auszuweisen, `würden das Vertrauen der Anleger schmälern…`!“

(105) Verächtlich bespötteln die Kurstreiber jene Warner, die über eine humane Wirtschaftsordnung nachdenken als … Modernisierungsverlierer. Die hochtrabenden Diebe besetzen damit zu Unrecht den Begriff `Moderne`. Doch ihre Geldalchemie ist nicht modern, sondern kriminell.

 (S 166) Das Herumschupfen von Geldtiteln ist kein redlicher Unternehmenszweck. Das verlässliche Bankeinkommen, das die Betriebe…  erarbeitet hatten, wurde gegen das Wetten um weltweit hüpfende Kurssprünge ausgetauscht, die mehr Gewinn versprachen. Die anfangs hohen Erwartungen in Grundstücks- und Rohstoffpapiere ließen den Börsenwert ansteigen, als die Industrie liquidiert war. Aber jetzt sind Wettpapiere wertzuberichtigen

 (45) „Der Konkurs traf mich wie ein Keulenschlag. Der Schock über meine Enteignung ist so groß, dass ich mit niemandem in meiner Umgebung darüber reden kann.“ –

„Mein Geld für 20 Jahre schwerster Nachtarbeit ist verschwunden. Ich ersticke vor Verzweiflung.“ –

„Die Unterstützung für unsere behinderte Tochter, der wir das Geld hinterlassen wollten, ist geraubt. Wir können nicht mehr beruhigt sterben.“ –
„Jahrelang wurde uns eine solide Verwaltung vorgegaukelt, der man seine ordentlich versteuerten Ersparnisse anvertrauen kann.

„Habe mich auf Baustellen von Leberkäse-Semmeln ernährt, um für die beiden Kinder Bildungskapital anzusammeln. Das ist jetzt verschwunden.

37) (Klage,) dass hierzulande nur ein Fünftel (!) aller Vermögensdelikte geahndet wird. Ganz abgesehen davon, dass Anlegerbetrug von der Anzahl der Kriminalfälle her nur ein Prozent ausmacht, vom Schadensausmaß her aber über dreißig Prozent aller Entwendungen beträgt.

(164)  Diese vielen gutmütigen, geduldigen, arglosen Leute dort draußen, die alle diese Höhen und Hänge, Talschaften, Flußauen, Ackerebenen, Gewerbeflächen, Fabriksiedlungen… beleben, die tagtäglich ihre Arbeiten ableisten, berechenbar bleiben, pünktlich sind, sorgsam, sparsam, geduldig inmitten von Unwissenheit, Einflusslosigkeit, Unbeachtetheit – sie sind es überwiegend, die jene Werte schaffen, die dann alle beanspruchen dürfen, mit Anteilszetteln namens Geld.

(78) Wird Einkommen angestrebt entweder durch redliches Herstellen und Leisten des Benötigten …oder aber durch listiges Umverteilen papierener Ansprüche auf bereits von anderen geschaffene Werte? Darauf prüfe ich jeden Geschäftsfall.

 (272) „Ich möchte… eine Wirtschaftsordnung – ohne irrige Ansätze, falsche Zurechnungen, verkehrte Entscheidungen.“

 

III In den 33 Jahren zwischen „Kasuar“ und „Holschuld“ erfolgte die Machtübernahme der Irrealwirtschaft über die Realwirtschaft, begleitet von allgemeinem Ernsthaftigkeitsverlust. Nobelpreisträger Paul Krugmann  behauptet sogar, dass die Makroökonomie in den vergangenen 30 Jahren im besten Fall nutzlos und im schlimmsten Fall schädlich gewesen sei. Ihm zufolge sind Ökonomen blind für das verhängnisvolle makroökonomische Versagen geworden, weil sie die Eleganz theoretischer Modelle für Wahrheit gehalten haben. Er und Nobelpreisträger Ronald Coase beklagen die Vernachlässigung des Erbes ihres Berufsstandes – eine Tradition, die mindestens bis zu Adam Smith zurückreicht – in der großen, zusammenführenden Theorien der politischen Ökonomie und Moralphilosophie große Bedeutung beigemessen wurde.

Betrachten wir deren Bezug zu den 4 aktuellen wirtschaftswissenschaftlichen Kategorien: 1. Mikroökonomie untersucht die Handlungsweisen von Haushalten und Unternehmen. 2. Makroökonomie erkundet Strukturen und Entscheidungen auf nationaler und globaler Ebene. 3. Mesoökonomie befasst sich mit institutionellen Aspekten der Wirtschaft, die nicht von der Mikro- und Makroökonomie erfasst werden, weil diese vollkommene Konkurrenz, und Information voraussetzen und die Bedeutung von Gerichten, Parteien und Konfessionen ignorieren, ein wichtiges Erklärungsfeld: Familien, Zivilgesellschaft, Soziales Regelsystem, Vertragskultur usw. 4. Die Metaökonomie schließlich begreift die Wirtschaft als komplexes interaktives ganzheitliches lebendiges System, sie verlangt einen unvoreingenommenen systemischen und evolutionären Ansatz, um die Realwirtschaft als System innerhalb anderer Systeme zu erkennen. Der britische Ökonom Fritz Schumacher fordert Elemente der Moralphilosophie, Psychologie, Anthropologie, Soziologie ein, wodurch die metaökonomische Einwirkung über die Grenzen der allzu simplen und kurzfristigen Gewinnmaximierung und nur individueller Rationalität hinausgeht. – Die Stoßrichtung ist deutlich.

 

Ich erwähne hier zwei schlechte und zwei gute Beispiele für Unternehmertum:

1  Wiedergabe des Enronskandals von 2000 bis 2002 in einem Satz: Die niedergewirtschaftete und intern ausgeraubte texanische Erdöl- und Erdgasfirma gründete Töchter, denen sie Know-How-Rechte verkaufte, worauf sie diese  Forderungen im Bilanzvermögen der Mutter auswiesen und so jahrelang Solvenz zeigten um immer wieder mit Jungen Aktien real erarbeitetes Vermögen Fremder anzulocken. Am späten Ende standen für die direkten Opfer über 60 Milliarden $ Börsenwertvernichtung und 7 Milliarden $ Schadensersatzzahlungen, 22.000 Jobverluste. Und auch der Schlag gegen Arthur Anderson…

 

2  Amerikanische Banken haben Millionen Briefe an Hausbesitzer ausgeschickt, dass sie wegen gestiegener Immobilienpreise zusätzliche Kredite aufnehmen können und sollen. Die so Eingeladenen verschuldeten sich weiter – für Konsum – die Banken schöpften weiteres Buchgeld, erhöhten ihre Umsätze und Habenzinsen, ihr Forderungsvermögen, sogar das BNP stieg nominell ohne dass dahinter reale Leistungen und Werte gestanden wären. Ganz abgesehen davon, dass diese virulenten virtuellen Forderungen auch noch gebündelt und transkontinental gehandelt wurden… Dieses Vorgehen brach kein Gesetz! Die Banker steigerten im Rahmen ihrer Begriffswelt das Geschäft. Und doch war es eine Fehlleistung, die national und international verheerende Schäden auch vielen Unbeteiligten zufügte.

Solche Inflationierung durch produktionslose Geldschöpfung löste das globale Banken-, Staaten-, Fiskal- und Sozialdesaster aus, das wir jetzt erleiden. Allein die österreichischen Sparer erlitten von 2010 bis 2012 einen Realzinsverlust – also Zinsertrag minus KEST minus Inflation von 10 Milliarden Euro! Ganz abgesehen von den Krisenkosten, die sie ohnehin als Steuerzahler tragen.

 

Zwei gute Beispiele:

1  Als Henry Ford I vor 100 Jahren von seinen Schrauben- und Gummilieferanten genau geformte und dimensionierte Verpackungskisten verlangte, rätselte man über diese Marotte des genialen Firmengründers, bis offenkundig wurde, dass diese Kistenbretter genau als Bodenplatten in seine Autos passten…

 

2  Als für die Olympischen Spiele 1972 in München ein 84.000 m2 großes gemeinsames Dach für alle Spielstätten zu bauen war, gewann die internationale Ausschreibung ein Hersteller mit dem Konzept, diese riesige Dachhaut nicht erst auf ein mühsam zu errichtendes riesiges Montagegerüst aufzulegen, sondern sie so wie einen Regenschirm zwischen den fertigen Pylonen aufzuspannen…

 

Die schlechten und die guten Beispiele sind legistisch kaum fassbar. Es ist bis zu den charakterlichen Prägungen vorzudringen.

 

IV Vor hundert Jahren wurden der Welt drei Großleistungen geschenkt: Der Berner Patentamtmitarbeiter Albert Einstein legte 1905 und 1916 die Relativitätstheorie vor, der wir unser zutreffendes Weltbild verdanken, was nicht nur für unser räumliches, sondern auch für das existentielle Bewusstsein und Selbstverständnis ultimativ ist. – Der russische Reformpolitiker Pjotr Stolypin, Ministerpräsident, legte 1910 den Plan einer permanenten Weltkonferenz vor, die angebliche Kriegsanlässe vernünftig beilegen wird. Er wurde dafür 1911 von militaristischen Reaktionären wahrscheinlich mit Wissen des Zaren ermordet. – Der Pastor, Orgelvirtuose und Arzt Albert Schweitzer entwickelte 1915 die universale Ethikformel „Ehrfurcht vor dem Leben“, auf der überkonfessionell das oberste Gebot gegründet ist.

Alle drei Erkenntnisdurchbrüche sind heute, 100 Jahre später, noch immer nicht allgemein internalisiert oder gar realisiert.

Da der Großteil des konkreten Weltverlaufs von der Wirtschaftswirklichkeit geprägt ist, bietet diese auch die größte erfolgversprechende Spiegel- und Entfaltungsfläche für neues Gestalten schicksalhafter Bedingungen

 

Der österreichische Dichter Hermann Broch, der immerhin 20 Jahre die Textilfabrik geführt, im Schlichtungsamt, Arbeitsamt, Gewerbegericht gearbeitet sowie bahnbrechende soziale Neuerungen in seinem Betriebsort an der Triesting eingeführt hatte, sandte nach dem 2. Weltkrieg seinen Roman „Der Tod des Vergil“ an Albert Einstein. Dieser antwortete begeistert, aber auch selbstkritisch betroffen: „Dieses Buch zeigt mir deutlich, wovor ich geflohen bin, als ich mich mit Haut und Haar der Wissenschaft verschrieb: Flucht vom Ich und Wir in das Es…“

Diese packende Selbsterkenntnis der höchsten Wissenschaftsgestalt führt uns zur entscheidenden Einsicht: Diese Flucht vom Ich und Wir zum Es ist auf niedriger, vulgärer Ebene überhaupt eine epochenspezifische Fehlleistung, ist eine Versuchung auch für die Ökonomie. „Wenn sogar das Ego zum Es wird, wird die Materie zur ausschließlichen Substanz öffentlicher Wirklichkeit.“ (Herbert Pietschmann 2005) Die Ökonomie jedoch scheint nach allem Gesagten, die erste und vorderste der real relevanten Disziplinen zu sein, die dieses mechanistische Modell praktisch jetzt schon zu überwinden im Begriff ist. Und zwar aus immanenter Reifung und Überzeugung, wie die Aussagen der Metaökonomen und das Verhalten der allermeisten Geschäftsführer beweisen.

Unternehmensführung in systemtheoretischer Sicht beginnt mit der Formulierung des Unternehmenszwecks – und dieser muss außerhalb des Systems liegen und ethisch i.w.S. wünschenswert sein. Erst dann können interne Unternehmensziele bestimmt werden, Umsatz, Arbeitsplätze, Gewinn usw. Mit der Wahl des Wortes Endzweck ist ein moralischer Ansatz in die Betrachtung gekommen, der freilich nicht ein moralisches Dilettieren gegen das ökonomische Prinzip sein darf. Es gilt der umkehrbare Satz: Unwirtschaftlich ist auch unmoralisch! (Wüstungen 169)  Der schon zitierte 86-jährige Philosoph Robert Spaemann bekennt 2012 (303): „Meine Grundhaltung gegenüber der Wirklichkeit ist in einem Grundvertrauen fundiert, das ich nicht der Philosophie verdanke. Ähnliches gilt für die katholische Morallehre. Ich könnte ihretwegen katholisch werden, wenn ich es nicht schon wäre.“  In meinem Roman „Wüstungen“ steht: (329) „Wie eine gerechte Weltökonomie aussähe, wäre noch durchzudenken und durchzurechnen, diese Kalkulation würde grandios aufgehen.“

 

Die heutige Holschuld des Ökonomen lautet somit:

1 Die offensichtliche Hauptverantwortlichkeit für den praktischen Lebensinhalt der Vielen anerkennen und wahrnehmen,

2 hierfür auch normativen Einfluss beanspruchen (z.B. Bildungswesen!)

3 den ganzheitlichen Ansatz der genannten Metaökonomie auch als Haushalts- und Unternehmensvorstand übernehmen, d.h.

4 die tägliche Bringschuld auch mit moralischer Inspiration leisten sowie

5 eigeninitiativ die Fehlentwicklungen im Wirtschaftssektor korrigieren (z.B. Finanzmarktreform!)

 

Die nun beginnende Beratung hierüber ist gewiss im weitesten Sinn rentabel! Und sie zählt zu den Inhalten des richtigen Lebens!