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Eduard Ferstl – „Alles wird davon abhängen, wie die Geschichte geschrieben wird.“

Lesezeit: ungefähr 3 Minuten.

„Die einzigen vertrauenswürdigen Quellen sind: Romane.“

(Max Aub „Bittere Mandeln“, deutsch 2003)

 

 

Etwas Traurigeres, als wenige Tage nach dem Tod eines verehrten Kollegen ein Nachwort zu schreiben für die von seinen Freunden posthum gedruckte Herausgabe jenes Romans, für den ich dem Lebenden über seine Bitte ein Vorwort versprochen hatte, musste ich noch nicht erleiden. Lebens- und berufliche Umstände verpflichteten mich schon zu vielen Grabreden. Aber noch nie galt es, die Bitterkeit eines betagten und geschätzten Autors anzusprechen, der jahrelang vergeblich einen Verlag für sein Werk suchte und der diesen Schmerz bis zuletzt gefasst ertrug.

 

Das verborgen bleibende Manuskript – vielfach geprüft, ergänzt, verbessert – entspricht in seinem Unbekanntbleiben dem Großschaden einer geschaffenen, aber nicht in die Umlaufbahn gesetzten Welt. Damit auch einem betrogenen schöpferischen Dasein. Denn „Der Roman ist eine Welt bildende Gattung“ (Markus Gasser), weil er über Inhalt, Gestalt und Sprache das Charakter prägende Bewusstsein über seinen Gegenstand in den Lesern schafft. Damit wird nicht nur schärferes Weltverständnis, sondern auch genauere, unterscheidungsfähigere, höherrangige Lebensweise für viele bewirkt. Eduard Ferstls Romangegenstand könnte wichtiger nicht sein: Die Epoche, über die er zwischen seinem zehnten und dreißigsten Lebensjahr mit größter Aufmerksamkeit und geistiger Präsenz seine Erfahrungen sammeln musste, ist als schwerste menschliche, weltanschauliche, politische, existentielle Prüfung in die Geschichte unseres Landes eingegangen, noch keineswegs erschöpfend redlich reflektiert – Vorstadien, Ausbruch, Verlauf des Zweiten Weltkriegs, dessen Schlussphasen und Folgen bis heute. Dieser Menschen mahlende Ablauf in allen Charakteren, Reaktionen, Tragödien ist projiziert auf Eduard Ferstls engste Heimat: Kapfenberg, die Mur-Mürzfurche, das obersteirische Industriegebiet, Fabrikshallen und Schlote zwischen Bergen und Wäldern, das komplexe Soziotop aus Ingenieuren, Arbeitern, Beamten, Parteigängern, Almbauern, Holzknechten…

Es wäre mehr als sachgerecht, es wäre menschenwürdig gewesen, wenn sich dieser Roman in die einschlägige österreichische Reflexion hätte zu Lebzeiten seines Verfassers einbringen können. Das dies nicht erfolgte, lag am wenigsten an Eduard Ferstl selbst. Es gebrach weitum an Verständnis und Bedürfnis, ein Fehler, der nicht nur unseren guten Kollegen zermürbte, sondern uns allen auch noch außerliterarisch zu schaffen machen wird…

Die größte Wohltat ist die Wahrheit“ (Thomas von Aquin), und Eduard Ferstl hat sie uns erwiesen, nicht in Artistik experimentierend, sondern gründlich erzählt.

Dem kürzlich erschienenen Essayband (Sonderzahl 2010) der Wiener Übersetzerin und Literaturkritikerin Karin Fleischanderl entnehme ich folgenden Text (S. 20 ff): „Für alle… denen es gelingt, Literatur zu machen, gilt, dass sie die Tradition mit ein wenig Leben erfüllen…auch wenn sie sich damit zufrieden geben müssen, alte Formen weiterzuführen, in der Tradition der realistischen Literatur zu schreiben. Dennoch gelingt es ihnen, etwas von sich `einzubringen`… sodass sich daraus eine individuelle Sichtweise… und ein individueller Blick auf die Wirklichkeit… ergeben. Bei Texten, die diese Kriterien erfüllen, hat man das Gefühl, sie haben eine Tiefe, auf die einzulassen es sich lohnt, sie verfügen über einen Reichtum des Blicks oder des Herangehens an die Dinge, sie lösen eine Fülle komplexer und zuweilen auch widersprüchlicher Regungen aus. Sie bringen eine Wahrheit ans Tageslicht, sind authentisch, ehrlich, zuweilen auch unvollkommen, fehlerhaft… vermitteln aber dennoch das Gefühl, irgendetwas von der Welt, der Wirklichkeit begriffen zu haben.“

Wie gültig für unseren gewissenhaften Romancier! Und wie schade, ihm diese souveräne Sicht nicht mehr hier vorlegen zu können.

Als einfaches Mitglied des Literaturkreises Kapfenberg danke ich voll Genugtuung den Funktionären, dass sie Eduard Ferstls Schrift anlässlich seines Ablebens statt der hierfür zuständigen Stellen herausgeben. Mein tröstlicher Zweifel am folgenlosen Leben und Sterben wird dadurch bestärkt und in die Erwartung verwandelt, dass Eduard Ferstl sich doch noch als jene „vertrauenswürdige Quelle“ erweisen kann, die unsere Zeitgeschichte Zukunft stiftend literarisch überliefert. Unsere herzlichste Anerkennung ist bei ihm.